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Warum die Berliner Schulreform unausweichlich war - Hauptschüler waren überhaupt nichts mehr wert

Sämtliche Rettungsversuche waren gescheitert – die Hauptschule in Berlin als Bestandteil des dreigliedrigen Schulsystems hatte keine Überlebenschance. Weder für Eltern noch für Lehrer und Betriebe galt ihr Angebot als attraktiv. Andere Bundesländer machten es vor, Berlin zog nach und schaffte vor vier Jahren die Hauptschule ab. Die Reform war dringend nötig. Von Anne-Katrin Mellmann und Martina Schrey

Gestritten wurde über die Hauptschule bereits in den 1970er-Jahren, auch in Berlin. Doch erst mit der internationalen PISA-Studie, die seit dem Jahr 2000 das Lese-, Naturwissenschafts- und Mathematikverständnis von 15-jährigen überprüft, kam die Debatte so richtig in Fahrt. Deutschland nur Mittelmaß, so das Ergebnis, und Berlin ganz schön weit unten: Hier hinken die Schüler mitunter ein bis zwei Schuljahre hinter den leistungsstärkeren Bundesländern hinterher.

Denn besonders in der Hauptstadt hängt der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen in hohem Maße von der sozialen Herkunft ab, schrieben die Bildungsforscher den Politikern ins Hausaufgabenbuch, Chancengleichheit Fehlanzeige. Erkennbar war diese Schieflage schon lange: Denn je niedriger die soziale Herkunft, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Schüler nach der Grundschule zur Hauptschule gingen. Ihr weiterer Lebensweg war offenbar programmiert: Im Schnitt jeder Zehnte verließ die Schule in Berlin ohne Schulabschluss - fast immer waren dies ehemalige Hauptschüler. Über Jahre hinweg fand jeder sechste, siebte Berliner unter 25 keinen Job - meist ehemalige Hauptschüler. Betriebe zogen Absolventen von Realschulen oder Gymnasien vor.

Hauptschüler blieben oft zurück | Bild: dpa

Hauptschulabschluss? Bewerbung zwecklos!

Es soll Hauptschul-Klassen gegeben haben, in denen alle Schüler aus Hartz-IV-Familien stammten. Und Hauptschulen, die jahrelang keinen einzigen ihrer Schüler mit einem Ausbildungsvertrag ins Leben entließen. Hauptschüler - das waren in der Regel Schüler aus so genannten bildungsfernen (Migranten-)Familien. Schon Sechsklässler wussten - wenn ihr Grundschulzeugnis nur noch für die Hauptschule reichte, dann waren sie wohl weniger wert als andere. Der Kulturwissenschaftler Stefan Wellgraf hat Berliner Hauptschüler zwei Jahre lang begleitet. Nach seiner Erfahrung haben viele Lehrkräfte an der Hauptschule diese Einschätzung sogar noch bestätigt: Ein Hauptschulabschluss sei sowieso nichts wert, die Ochsentour der Bewerbungen ohnehin vergeblich.

Politiker reisten nach Finnland

Das alles war Anfang der 2000er-Jahre längst bekannt - durch PISA bekam die Debatte aber noch mal Konjunktur. An den Berliner (Haupt-)Schulen geschah jedoch wenig. Stattdessen reisten Politiker nach Finnland: Denn finnische Schulen sind laut PISA die besten in Europa. Weniger Selektion, die Schüler lernen viel länger gemeinsam, die Lehrer haben eine gesetzlich garantierte Methodenfreiheit. Ob und wie dies auf das deutsche, das Berliner Bildungssystem zu übertragen sei - darüber wurde erstmal vor allem geredet.

Bis 2006 der nächste Berliner Schul-Skandal bundesweit für Aufsehen sorgte: An der Neuköllner Rütli-Hauptschule fand Schule unter Polizeischutz statt, immer wieder kam es zu Gewaltausbrüchen, das Kollegium wandte sich mit einem "Brandbrief" an die Schulaufsicht:  Die Hauptschule sei am Ende der Sackgasse angekommen, schrieben die Lehrer, "welchen Sinn macht es, dass in einer Schule alle Schüler/innen gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen, um ihr Leben sinnvoll gestalten zu können." In ihrem Hilferuf forderten die Pädagogen "eine neue Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung."

Berliner Rütli-Schule unter Polizeischutz (Quelle: dpa)
Polizeischutz an der Neuköllner Rütli-Schule | Bild: dpa

Neuköllner Rütli-Schule setzt vieles in Bewegung

Schnell stellte sich raus: Rütli war kein Einzelfall, auch in anderen Berliner Hauptschulen herrschten ähnliche Missstände. Doch bis zu einer grundlegenden Reform des Berliner Schulsystems dauerte es weitere vier Jahre. Ausgerechnet das Konjunkturpaket II brachte die Sache in Schwung. Jetzt war genug Geld da, um den Umbau der Schullandschaft schnell zu finanzieren. Und so beschloss der rot-rote Senat 2009, damals noch mit Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD), dass es in Berlin neben dem Gymnasium nur noch eine Oberschule geben wird: Die Integrierte Sekundarschule (ISS). Sie sollte ab Sommer 2010 Haupt-, Real- und Gesamtschulen vereinen, alle Abschlüsse bis zum Abitur ermöglichen und individuelles, praxisorientiertes Lernen anbieten. Für Ganztagesbetrieb und bessere Förderung sollen jährlich 22,6 Millionen zusätzlich zur Verfügung stehen.

"Der bescheidene Fortschritt einer vereinfachten Schulstruktur, bei der das Gymnasium unangetastet bleibt, besteht darin, dass die Ghettoisierung der Hauptschule aufgehoben wird", so der Bildungsforscher Klaus-Jürgen Tillmann zu Beginn der Umstellung. Konzentriere man die problematischen Fälle in einer Schulform, gäbe es keine Lernerfolge. "In einem neuen Klassenverband mit höher motivierten Schülern verbessert sich ihre Situation erheblich." Und der PISA-Bildungsforscher Andreas Schleicher ergänzte: "Schule muss den Lernfortschritt jedes einzelnen Schülers in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Sie muss Verantwortung für die Lernergebnisse der Schüler übernehmen, anstatt diese Ergebnisse auf andere Schulformen abzuwälzen."

Bildungssenator Jürgen Zöllner schaffte die Hauptschule ab (Quelle: dpa)
Bildungssenator Zöllner schaffte in Berlin die Hauptschule ab | Bild: dpa-Zentralbild

Die Zukunft ist offen

Seitdem sind vier Jahre vergangen, jetzt wird der erste Jahrgang der Sekundarschule seinen Abschluss machen, auf ein Oberstufenzentrum wechseln oder den Schritt ins Berufsleben wagen. Trotz aller Kritik, die es im Vorfeld gegeben hat, ist die Sekundarschule angenommen worden - von Lehrern, Schülern und Eltern. Ob die Sekundarschüler besser ausgebildet sind als die ehemaligen Hauptschüler, werden die Zukunft und der Arbeitsmarkt zeigen. Deutlich mehr Jugendliche mit Ausbildungsverträgen - das wäre ein erster großer Schritt für die Hauptstadt. "Schulreformen können immer nur Mittel zum Zweck sein", so Bildungsexperte Schleicher. "Den Erfolg wird man daran messen, ob Schulen den Schülern helfen, sich in einer immer schneller verändernden Welt zurechtzufinden."

Und auf die Schulen warten noch viele Aufgaben - auch wenn es die hoch umstrittene Hauptschule in Berlin nicht mehr gibt. Das neue System ist nur zum Teil durchlässiger geworden: Bildungsstudien belegen regelmäßig, dass der Bildungserfolg schon in der Grundschule stark von der sozialen Herkunft abhängt. So werden Kindern, die von ihren Eltern stark gefördert werden, auch weiterhin mehr Bildungswege offen stehen.

Beitrag von Anne-Katrin Mellmann und Martina Schrey

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