Audio: Inforadio | 16.06.2014 | Kirsten Buchmann | Bild: dpa

Jahrelang fehlte der Mut für eine grundlegende Reform - Der lange Abschied von der Hauptschule

Dass die Hauptschule nicht funktionierte, ist schon lange bekannt gewesen. Trotz kleiner Klassen und besserer Lehrerausstattung verließ jeder Dritte die Hauptschule ohne Abschluss. Trotzdem wurde über ihre Abschaffung in Berlin viele Jahre heftig diskutiert und gestritten. Auch die Neuköllner Rütli-Schule brachte dann endlich den Stein ins Rollen. Kirsten Buchmann blickt zurück

Auslaufmodell Hauptschule - der ehemalige Leiter der Rütli-Schule, Helmut Hochschild, beschrieb es mit deutlichen Worten: "Eine Berliner Hauptschule kann nicht gesund werden. Denn das System ist krank". 2006 war das, nach dem Skandal um die Rütli-Schule in Neukölln. Das Thema Hauptschulen ist da schon ein Dauerbrenner. Seit Jahren wird ihre Krise diskutiert, spätestens seit der 2001 veröffentlichten Pisa-Studie, und es gibt immer neue Rettungsversuche.

Schüler einer 9. Klasse malen das Wort "Pisa" an die Tafel (Bild: dpa)
PISA-Studie löst Debatte aus

Der PISA-Schock 2001

Im internationalen Leistungsvergleich schneiden die die deutschen Schülerinnen und Schüler schlecht ab. Die Schere zwischen guten und schwächeren Schülern ist besonders groß. 25 Prozent können nur eingeschränkt lesen. Jürgen Baumert vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung nennt ein weiteres beunruhigendes Ergebnis: "Die zweite große Überraschung, mit der keiner gerechnet hat, ist die sehr starke Kopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb in der Schule in Deutschland."

Für die Chancenungleichheit machen Berliner Elternvertreter das dreigliedrige Schulsystem verantwortlich. Die Hauptschule sei die Restschule für die, die den Sprung auf die übrigen weiterführenden Schulen nicht geschafft haben. Ein längerer gemeinsamer Unterricht könne die Chancen dieser Kinder verbessern. Jedoch reagiert Berlin auf Pisa mit anderen Reformen. So sollen Kinder früher eingeschult werden, damit sie bereits eher gefördert werden.

2004 Neue PISA-Ergebnisse

Die Hauptschüler sind nicht besser geworden. Jeder dritte Berliner Hauptschüler verlässt die Schule ohne Abschluss. Und das, obwohl Berlin von allen Bundesländern am meisten Geld in die Hauptschulen steckt: 8.000 Euro pro Jahr und Schüler.
Hauptschulleiter sagen, Schüler empfänden es als Strafe in ihren Klassen zu landen. Diese Schulform sei überholt. Bildungssenator Klaus Böger (SPD) hat da eine andere Haltung: "Ich bestreite nicht die Schwierigkeiten, die wir haben. Ich sage nur, mit Schulformänderungen werden wir dieser Probleme nicht Herr werden." Innerhalb der vorhandenen Schulstrukturen will er vielmehr die Unterrichtsqualität verbessern.

Ein Polizist steht am 31.3.2006 vor der Rütli-Hauptschule in Berlin-Neukölln. (Bild: dpa)
Die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln unter Polizeischutz

2006 Der Hilferuf

55 Hauptschulen gibt es in Berlin. Eine gerät außer Rand und Band. Im März 2006 schlägt der Brandbrief der Rütli-Schule bundesweit Wellen. Der Tenor: Wegen Gewalt und Chaos in den Klassen sei kein Unterricht möglich. Die Reaktion von Bildungssenator Böger: "Diese Schule wird ab morgen, zunächst temporär, eine Eingangskontrolle durch die Berliner Polizei haben. Das kann keine dauerhafte Lösung sein, aber es ist zunächst einmal eine Lösung, in der klar wird, dass Waffen an Schulen nichts zu tun haben."

Der CDU-Spitzenkandidat Friedbert Pflüger verlangt eine härtere Gangart. Mit Metalldetektoren, Polizeistreifen und Videoüberwachung könne man die Gewalt an den Hauptschulen bekämpfen.
Der Feuerwehrmann für die Rütli-Schule wird Helmut Hochschild. Acht Monate wird er der Interimsschulleiter sein. Seine Diagnose des Rütli-Problems: "Wenn wir in eine Grundschulklasse schauen, in denen heutzutage etwa 25 Schülerinnen und Schüler sitzen, dann haben sie ein oder zwei Schüler, die zu denen gehören, die den Unterricht stören, die dadurch auffallen, dass sie wenig leisten wollen oder können. Diese ein bis zwei Schülerinnen und Schüler fassen wir in den Berliner Hauptschulen zusammen."

Schüler kämen oft mit dem Wissensstand von Viertklässlern in die siebten Klassen der Hauptschulen. Und mit der Haltung: Wozu soll ich lernen, ich habe ja sowieso keine Chance. An der Rütli-Schule sind mehr als 80 Prozent Einwandererkinder, darunter Kinder von Flüchtlingen ohne sicherem Aufenthaltsrecht, ohne Aussicht einen Beruf erlernen zu dürfen. Nicht nur die Rütli-Schule kennt diese Probleme, sagt Interimsschulleiter Hochschild. "Das, was die Kolleginnen und Kollegen beschrieben haben, findet in großstädtischen Schulen überall statt."

Er plädiert für eine Gemeinschaftsschule für alle nach skandinavischem Vorbild. Die Berliner Hauptschulen bekommen allerdings erst einmal Verstärkung durch Sozialarbeiter.

Dezember 2006 Neuer Schulsenator offen für Reformen

Der neue Bildungssenator Jürgen Zöllner ist im Amt. Im rot-roten Koalitionsvertrag findet er die Gemeinschaftsschule vor, in denen die Schüler länger gemeinsam lernen sollen. Auf freiwilliger Basis sollen Pilotgemeinschaftsschulen entstehen, ausdrücklich neben den schon vorhandenen Schularten, sprich: Die Hauptschule existiert weiter. Schulfusionen schließt Zöllner nicht aus. Er will aber nichts erzwingen: "Es hilft mir nichts, wenn man der Bevölkerung eine Schulform überstülpt, die von der nicht nicht gewollt wird."

Die Hauptschulen arbeiten erst einmal daran ihre Situation zu verbessern, etwa durch Streitschlichter auf dem Schulhof oder Versuche auf die Wirtschaft zuzugehen. Trotzdem: Nur einen von zehn Ausbildungsplätzen besetzen die Unternehmen mit einem Hauptschüler. Sie nehmen lieber Qualifiziertere.

Wenn es darum geht, die Schüler zum Lernen zu motivieren, ziehen Eltern allerdings nicht immer mit am selben Strang, sagt der Leiter der Carl-Friedrich-Zelter-Hauptschule in Kreuzberg, Robert Hasse: "Zum Teil verstehen die Väter, die hier sitzen, nicht, warum ihre Tochter überhaupt etwas lernen soll. Sie wird doch später verheiratet."

Der scheidende Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) währen der Amtsübergabe an seine Nachfolgerin Sandra Scheeres (SPD) (Bild: dpa)
Jürgen Zöllner und Sandra Scheeres

2008 Diskussionen um eine Schulstrukturreform

Längst haben viele Bundesländer die Hauptschule abgeschafft oder dies zumindest beschlossen. Auch in Berlin würde der Leiter der Kepler-Hauptschule in Neukölln, Wolfgang Lüdtke, lieber heute als morgen auf sie verzichten, denn hier ballen sich die Probleme: "Es fehlt an Disziplin, es fehlt an Pünktlichkeit, es fehlt an Leistungsbereitschaft. Die Kriminialität im Umfeld nimmt zu."

Es gibt aber auch Gegner einer Abschaffung der Hauptschule. Das Hauptargument lautet: an einer integrierten Schule würden die leistungsschwächeren die guten Schüler nur herunterziehen.
Dennoch: weniger als acht Prozent eines Schülerjahrgangs werden inzwischen an den Berliner Hauptschulen angemeldet. Die rot-rote Koalition will eine bessere Schülermischung und mehr Chancengleichheit. Haupt-, Real-, und Gesamtschulen sollen in einer neuen Schulart, der Sekundarschule, aufgehen. Steffen Zillich von der Linksfraktion freut sich: "Die Unterteilung, du wirst später Akademikerin, du wirst später Facharbeiter und du hast eigentlich keine Chance. Diese Unterteilung entfällt, weil wir nur noch weiterführende Schulen haben werden, die zu allen Abschlüssen führen werden."

2009 Die Entscheidung

Der rot-rote Senat beschließt die Schulstrukturreform und damit auch die Abschaffung der Hauptschulen. Im Sommer 2010 startet die Sekundarschule. In den Folgejahren beenden die letzten Hauptklassen nach und nach die Schule.

Beitrag von Kirsten Buchmann