Meine Erfahrungen mit der Sekundarschule - "Theorie und Praxis stimmen oft nicht überein"

Es waren aufregende vier Jahre. Inmitten einer Klasse, in der die einen gern lernen, während die anderen lieber den Klassenclown spielen. Mit zwei Lehrern, die mit Geduld und Fantasie versuchen, ihre Schüler für den Unterricht zu interessieren. Und Eltern, die zwar am Erfolg ihrer Kinder interessiert sind, oft aber einfach nicht durchblicken. Was bleibt, sind viele Fragen. Von Gabriele Heuser

Es gibt einen Moment, den ich nie vergessen werde, wenn ich an das erste Jahr in der neuen Sekundarschule denke: "Liest Du denn in deiner Freizeit auch mal ein Buch?", fragte ich damals einen der Siebtklässler. "Nein", war die Antwort. "Lesen kann ich ja schon, das muss ich nicht mehr üben." Spätestens da war mir klar, dass ich durch mein Projekt zur Einführung der Sekundarschule eine für mich völlig neue Welt betreten hatte: In den so genannten bildungsfernen Schichten unterwegs in Neukölln, auf den Spuren derer, die vorher mit dem Stempel "Hauptschüler" versehen und überall verschrien waren.

Rund 12 000 Familien in Berlin suchten 2010 für ihre Kinder eine weiterführende Schule. Sie alle standen vor der Frage: Was sollen wir von diesem neuen Schultyp halten, können wir mit unserem Kind dieses Experiment wagen?

Blick ins Klassenzimmer [rbb / Heuser]
Turbulenzen im Klassenzimmer waren nicht selten

Leicht fiel diese Entscheidung sicher den Schülerinnen und Schülern, die vor der Reform auf eine Hauptschule gegangen wären. Gerade für sie versprach die Sekundarschule Hoffnung. In der neuen Mischung zusammen mit den leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern, die vorher als Realschüler besser angesehen waren, wurden sie nun nicht mehr gleich als "die Loser" identifiziert. Das gab neues Selbstbewusstsein, und das war von Anfang an in der Klasse an der Röntgenschule zu spüren, die ich auf ihrem Weg in der Sekundarschule begleitet habe. Doch am Anfang war ich schockiert.

Manchmal war ich ganz schön sprachlos

Fleiß, Aufmerksamkeit und Disziplin entsprachen so gar nicht dem, was ich selbst aus der Schule kannte. Ständiges Rumgehampel, laute Privatunterhaltungen - obwohl die Lehrer gerade wichtige Details erklären - scheinbar völliges Desinteresse am Unterrichtsstoff. Manchmal war ich sprachlos, was in "meiner" Klasse abging. Obwohl selbst Mutter einer Tochter, im gleichen Alter an einer anderen Sekundarschule, hätte ich mir den Klassenalltag nicht so turbulent und wenig effektiv vorgestellt.

Wie werden die anderen auf Dauer darauf reagieren, die besseren Schülerinnen und Schüler, habe ich mich gefragt. Die Antwort kam prompt: Ganz schön genervt waren sie, als sie zum x-ten Mal den Mitschülern erklären sollten, worum es im Unterricht geht, wie die Matheaufgaben zu lösen sind oder warum sie mitmachen sollten und nicht ständig die anderen beim Lernen stören. Von dem gewünschten Ziel, dass die Stärkeren die Schwächeren mitziehen, war in der Praxis erstmal nicht viel zu spüren. Wenn es vom Lehrer zwangsverordnet wurde, vielleicht. Aber freiwillig haben sich das die stärkeren Schülerinnen und Schüler nicht lange angetan.

Matheunterricht in der Sekundarschule, Lehrer Bachmann und Schüler des Grundkurses Mathematik 10. Klasse (Bild: G. Heuser, rbb-Inforadio)
Das Gespräch mit dem Nachbarn ist auch interessant

Können wirklich alle bestmöglich gefördert werden?

Es hat das ganze erste Jahr gedauert, bis sich alle an Regeln hielten, die das gemeinsame Lernen überhaupt möglich machen. Aber zumindest das haben sie im Verlauf der vier Jahre immer besser geschafft - sicher auch, weil ab der 9. Klasse die wichtigsten Fächer dann doch wieder in Gruppen mit unterschiedlichen Leistungsniveaus unterrichtet wurden.

Wenn ich nach dieser spannenden Langzeitbeobachtung Bilanz ziehe, dann bleibt für mich die Frage, ob bei der großen Bandbreite in der Klasse wirklich alle Schüler mit ihren individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten gleichermaßen angesprochen und bestmöglich gefördert werden können - so wie es die Theorie der Sekundarschule verspricht.

Zu selten konnten die Lehrer gemeinsam unterrichten

Nach meiner Erfahrung stimmen Theorie und Praxis oft nicht überein. Selten habe ich erlebt, dass die vorgesehenen zwei Lehrer in der Klasse gemeinsam unterrichtet haben, sodass sich der eine um die Lernschwächeren, der andere um die Ambitionierten kümmern kann. Abgesehen davon, dass die Lehrer am Anfang überhaupt keine brauchbaren Unterrichtsmaterialien für die unterschiedlichen Lernniveaus hatten – was sich inzwischen jedoch verbessert hat – war das Personal oft zu knapp. Häufig musste einer aus dem Team Vertretungsstunden in einer anderen Klasse machen und fehlte dann, um im Unterricht ein leistungsdifferenzierendes Angebot zu bieten.

Die Schüler, die mit dem Stoff klar kamen, hatten Glück. Die anderen schalteten ab oder fingen an den Klassenclown zu geben. Die richtige Balance zu finden, den Schwächeren genügend Möglichkeit zum Üben und Vertiefen zu bieten, die Stärkeren aber nicht zu unterfordern – das gleicht meiner Meinung nach der Quadratur des Kreises.

Klassenlehrer Bachmann im Gespräch mit einem Vater (Bild: G. Heuser, rbb-Inforadio)
Viele Eltern verstehen das Schulsystem nicht

Auch mir fällt der Durchblick manchmal schwer

Das Vermitteln von fachlichen Lerninhalten ist zudem nur ein Teil der Arbeit, die die Lehrer an der Röntgensekundarschule machen. Sehr häufig sind sie auch als Sozialarbeiter und Erzieher gefordert, müssen Defizite ausgleichen und Hilfestellung leisten, die das Elternhaus nicht bietet. Im Laufe der vier Jahre habe ich viele Eltern der Klasse kennengelernt. Durchweg sehr nette Menschen, die am schulischen Erfolg ihrer Kinder interessiert sind.

Aber die meisten sind damit überfordert, ihre Kinder richtig zu unterstützen. Weil sie andere Vorstellungen von Erziehung haben, weil sie die Berufswelt in Deutschland nicht gut genug kennen -  und weil sie nicht durchblicken, worauf es bei den angestrebten Schulabschlüssen ankommt und welche Möglichkeiten es für ihre Kinder gibt. Aber das zu durchschauen, muss ich zugeben, fällt auch mir schwer. Obwohl ich mich ausführlich mit dem Thema beschäftigt habe.

Ich war erstaunt, wie wenig die Eltern bei allem guten Willen ihren Kindern tatsächlich helfen können. Oft habe ich die Antwort gehört: Mein Sohn oder meine Tochter informiert sich und weiß schon, was richtig für ihn oder sie ist. Aber dass es jetzt nach dem Ende der Sekundarschule weiterführende Schulen, Oberstufenzentren mit Schwerpunkten in unterschiedlichen Berufsrichtungen gibt, war vielen Eltern nicht klar. So kommt es, dass ein Schüler, der sich für Ernährung interessiert, an ein OSZ Recht geht und eine andere Schülerin, die einen sozialen Beruf anstrebt, ebenfalls.

Der Schüler Ogushan beim Betriebspraktikum in der Berliner Firma Atotech - Foto: rbb Inforadio/Gabriele Heuser
Erste Ausflüge in die Berufswelt gehören dazu

Auf Leitern und in Hinterzimmern

Die Lehrer meiner Projektklasse, die ehemalige Hauptschullehrerin Gabriela Lehnen und Detlef Bachmann, der von der Realschule kam, habe ich sehr oft bewundert. Mit welcher Geduld und Fantasie sie versucht haben, ihre Schüler für die Unterrichtsthemen zu interessieren, war beeindruckend. Das alles verpackt mit viel Humor und noch mehr Verständnis für alle Lebenslagen der bald schon pubertierenden Klasse. Ich kann nur sagen: Chapeau!

Sie haben die Jugendlichen auch  bei ihren ersten Ausflügen in die Berufswelt begleitet. So konnte auch ich dabei sein: In einer Altbauwohnung im Simon-Dach-Kiez, wo ein Schüler als Praktikant geholfen hat, das Bad neu zu fliesen, während der Bewohner tief und fest im Nebenraum seinen Rausch ausschlief. Ich bin eine Leiter hochgeklettert, in das winzige Büro eines türkischen Lebensmittelladens, um zusammen mit der Lehrerin von dem Chef zu hören, wie sich der Schülerpraktikant als Lebensmittelverkäufer macht. Welten, in die ich sonst nie gekommen wäre.

Gabriele Heuser mit Schüler (Bild: rbb-Inforadio)
Viele Fragen bleiben offen | Bild: rbb-Inforadio

So richtig rund läuft es noch nicht

Ich habe gesehen, wieviel Hilfe diese jungen Sekundarschüler in Neukölln von Lehrern, externen Berufsberatern, Coaches und durch Kooperationen mit Firmen bekommen haben, um erfolgreich ins Berufsleben zu starten. Und trotzdem wird es nicht allen gelingen, weil sie all diese Angebote aus welchen Gründen auch immer nicht richtig für sich genutzt haben.

Improvisation war von Anfang an gefordert, auch in der Röntgenschule: Auftakt im Zirkuszelt, weil die Aula noch nicht fertig war, Mittagsversorgung für den Ganztagsbetrieb durch die Mütter der Schüler, Nachjustieren bei Bewertungskriterien und Zulassungsvoraussetzungen für die Prüfungen. Der erste Jahrgang hat an einem Bildungsexperiment teilgenommen, das der Schulleiter der Röntgen-Schule, Detlef Pawollek, einmal als Reparatur am laufendem Motor bezeichnet hat. Mein Eindruck: Bis der ohne Aussetzer schnurrt, werden vermutlich noch ein paar Jahrgänge die Sekundarschule mit Ruckeln durchlaufen.

Vielen Dank allen Beteiligten für die offenen und ungeschminkten  Antworten auf all meine Fragen.

Beitrag von Gabriele Heuser

Mehr zum Thema

dpa

Warum die Berliner Schulreform unausweichlich war - Hauptschüler waren überhaupt nichts mehr wert

Sämtliche Rettungsversuche waren gescheitert – die Hauptschule in Berlin als Bestandteil des dreigliedrigen Schulsystems hatte keine Überlebenschance. Weder für Eltern noch für Lehrer und Betriebe galt ihr Angebot als attraktiv. Andere Bundesländer machten es vor, Berlin zog nach und schaffte vor vier Jahren die Hauptschule ab. Die Reform war dringend nötig. Von Anne-Katrin Mellmann und Martina Schrey

Fragen und Antworten zur Sekundarschule - Wie alles besser werden soll

Was genau bedeutet eigentlich ISS und was ist duales Lernen? Warum war die Schulreform in Berlin überhaupt notwendig und was hat sie gekostet? Welche Abschlüsse kann man auf der Sekundarschule erreichen und was passiert, wenn man an der Berufsbildungsreife-Prüfung scheitert? Haben sich die Hoffnungen erfüllt oder behalten am Ende die Kritiker recht?

Hier die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wie es die anderen Bundesländer halten - Stadtteil-, Regional- oder immer noch Hauptschule

Weniger Schüler durch den demografischen Wandel, ein schlechtes Image der Hauptschule und soziale Probleme vor allem in den Stadtstaaten machten Bildungsreformen nötig. Zwei unterschiedliche Linien lassen sich in Deutschland erkennen: Hin zur Sekundarschule oder Festhalten an der Hauptschule mit gestärktem berufsvorbereitenden Profil. Aber, im Bildungs-Föderalismus gilt: Jeder kocht sein eigenes Süppchen.