Reportage: Oberschöneweide - Zwischen Aufbruch und Verdrängung

Oberschöneweide ist ein Achterbahn-Kiez: hoch geflogen, dann heftig abgestürzt, erst in den letzten Jahren wieder berappelt. Auch die Menschen dort hat das kräftig durchgeschüttelt. Längst nicht jeder hat noch großes Vertrauen in die Demokratie. Was zu sagen haben wollen die Oberschöneweider trotzdem. Martin Adam über eine Insel im Südosten Berlins.

Heiß und schwarz tropft die Flüssigkeit über den Siebträger mit dem Kaffeepulver in die zierliche Porzellantasse. Sofort duftet der kleine Kellerraum nach Kaffee. Die alte Maschine, die Delia durch Zufall gefunden hat, funktioniert. Der Rest ihres Cafés ist allerdings noch Baustelle. In drei Tagen will sie eröffnen.

Delia Fröhlich ist 27, aus Wiesbaden ist sie 2010 zum Studieren hierhergezogen: Kommunikationsdesign, in Oberschöneweide. Drei Jahre später gründet sie mit Freunden 'das Bett': "Das ist eigentlich ein Coworking-Space", erzählt sie. "Ursprünglich waren wir eine Gruppe von Studenten von der HTW Berlin, die einen Atelierraum gesucht haben. Und dann haben wir halt ein ganzes Haus gefunden und dann hat sich das alles so entwickelt."

Das Haus ist ein Häuschen mit Garten, in einem Hinterhof. Früher war hier eine Brauerei, heute kann man sich im Kesselraum einen Schreibtisch mieten, in Zukunft hoffentlich die Nachbarn kennenlernen. Denn das Café, das Delia Fröhlich gerade in ihr Gemeinschaftshaus baut, soll die Hemmschwelle senken, sagt sie, damit sich bald alle eingeladen fühlen.

Inforadio-Reporter Martin Adam in Berlin-Oberschöneweide

Video: Jens Butterwegge

Politik ist von hier aus gesehen weit weg

Mit Politik hat Delia Fröhlich wenig am Hut. "Das, was man mitbekommt, sind halt diese Werbemaßnahmen. Man hat immer das Gefühl, es wird einem etwas verkauft", sagt Delia. "Es geht wenig darum, einen inhaltlichen Austausch zu haben oder auch mal selbst gefragt zu werden. Sondern du weißt schon, worauf das Ganze hinausläuft. Das ist so wie bei Tinder, da weiß man das auch. Worüber reden wir dann noch?"

Draußen auf der Wilhelminenhofstraße haben viele noch nie von dem Kreativhaus gehört. Wie seit Jahrzehnten fährt hier die Straßenbahn einmal quer durch Oberschöneweide: Auf der linken Seite sanierte Wohnhäuser, auf der rechten Industriegebäude aus gelbem Klinker. Drumherum Wuhlheide und Spree - Oberschöneweide ist wie eine Insel.

Mittendrin: Susanne Reumschüssel und ihr 'Industriesalon'. In einer Halle des ehemaligen Transformatorenwerks hat sie ein Museum eingerichtet - damit nicht vergessen wird, dass Oberschöneweide mal das größte innerstädtische Industriezentrum Europas war.

Hier haben über 20.000 Menschen ihren Job verloren

"Es war eines der legendären Gründerzentren der AEG, also der Elektropolis Berlin. 1895 ging das hier los", erzählt sie. "Und jetzt gehen wir mal zur Wendezeit. In Oberschöneweide haben 1989 25.000 Menschen gearbeitet. Der ganze Ort war ein Ort der Industrie, mit allem, was dazugehört hat. Letztlich haben über 20.000 Menschen ihren Job verloren."

Manche Oberschöneweider, sagt Susanne Reumschüssel, könnten bis heute nicht an den Hallen vorbeilaufen, ohne an dieses Trauma erinnert zu werden. Bis vor zehn Jahren sei hier alles grau gewesen, die Häuser unsaniert, auf den Straßen die Nazis. Jetzt herrsche die  'Zwischenzeit', glaubt sie - zwischen untergegangener Industrieblüte und ungewisser Zukunft.

Die hat 2006 begonnen, als die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) ins alte Kabelwerk Oberspree gezogen ist. Seitdem kommen Studierende an die Wilhelminenhofstraße, essen Bio-Burger zu Berlin-Mitte-Preisen - und verändern auch das Geschäft von Kerstin Fröhlke.

"Ich habe Wolle, Kurzwaren, die Schreibwaren habe ich seit fünf Jahren drin, weil die Studenten halt danach gefragt haben. Früher hatte ich 80 Prozent ältere Kunden, jetzt habe ich so ungefähr 10 Prozent ältere, die anderen sind nur noch junges Volk. Das macht den Kiez hier auch aus."

Jetzt kommen die Studenten, die Ausländer

Kerstin Fröhlke ist hier großgeworden. Vor 27 Jahren, als so viele arbeitslos wurden, hat sie ihren Laden eröffnet. Seitdem kann sie durch ihr Schaufenster zuschauen, wie sich der Kiez wandelt.

Nur: dass sie dabei etwas mitzureden hat, glaubt Kerstin Fröhlke nicht: "Also Einfluss habe ich nicht. Da müsste ich mich mehr engagieren. Ich mache mein Kreuz, aber ich denke, ich bin ein ganz kleines Licht." So sehr sie sich junge Leute, neue Läden und mehr Leben auf der Straße wünscht, die Angst vor hohen Mieten und Verdrängung schwingt immer mit - bei ihr wie bei vielen hier.

Manuela Teuber (Quelle: rbb/Martin Adam)
Bild: rbb/Martin Adam

Ein paar Hausnummern weiter sitzt Manuela Teuber in einer Bäckerei. Die Kaffeetasse in der Hand, den Blick aus dem Fenster sagt sie, dass sie dem "neuen" Oberschöneweide nichts abgewinnen könne:  "Ich sage mal, früher, als ich noch jünger war, war das eine richtig schöne, ruhige Gegend. Jetzt ist sie leider mehr oder weniger das Gegenteil. Es wird alles modernisiert, die ganzen Studenten kommen her, die ganzen Ausländer kommen her."

Es fehle an deutschen Geschäften, meint sie. Es müsste mehr Angebote für Kinder geben, mehr Jobs und höhere Löhne. Von der Politik erhofft sie sich nichts mehr. "Weil - die kommen, machen Versprechungen, versprechen dir das Blaue vom Himmel und im Endeffekt ist alles … Mehr möchte ich jetzt dazu nicht sagen."

Aus der Bäckerei heraus, unter dem alten Industriekran durch, liegen rechts die gerade eröffneten Galerien und Ateliers in den alten Reinbeckhallen. Auch der kanadische Musiker Bryan Adams hat sich hier eingekauft. Links das Kabelwerk, es produziert noch. Geradezu auf der Spree liegt das ReMiLi, früher Lastenschiff, heute ein schwimmender Jugendclub. Politik ist bei den Jugendlichen kein Thema - zu kleinteilig, zu uneindeutig, sagt Sebastian Thron.

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Er leitet tagsüber das Jugendschiff, nach Feierabend engagiert er sich ehrenamtlich, kämpft mit anderen in einer Bürgerplattform für einen freien Uferweg - und zweifelt dennoch oft an der Politik: "Wir werden zu wenig ernst genommen. Ich glaube, wir werden gesehen, aber die Politik macht ihr eigenes Ding. Ich bin sozusagen einfach nur ein Sandkörnchen auf dem Hänger, der hinten draufsitzt. Aber ich glaube schon, dass auch die Sandkörnchen, die auf dem Hänger sind,  auch irgendwie eine Macht haben."

Deswegen ist für ihn klar: Auch dieses Jahr geht er wieder wählen. Sebastian Thron hat sein ganzes Leben in Oberschöneweide verbracht und hofft, dass er sich das weiterhin leisten kann. Gleichzeitig freut er sich über neue Nachbarn wie Delia Fröhlich und ihr Coworking-Café-Projekt 'das Bett'.

Gesellschaft gestalten ist auch Politik

Dort im kleinen Kellerraum riecht es inzwischen wieder nach Kaffee, die Maschine ist im Dauerbetrieb, das Café gerade noch pünktlich fertig geworden. Zur Eröffnung sind kaum 'alte' Oberschöneweider gekommen. Delia ist durchaus bewusst, dass ihr manche hier mit Skepsis begegnen. Denn natürlich trägt auch sie ihren Teil zur Gentrifizierung bei: "Wenn die aber hier waren, sind sie eigentlich immer total glücklich wieder gegangen. So nach dem Motto: 'Ja, ich dachte, ihr seid so blöde Studenten, die hier alles kaputtmachen. Aber das ist ja irgendwie schon ganz okay, was ihr hier macht.' Also solche Sätze sind halt viel eher gefallen."

Denn zugleich bringen Leute wie Delia Fröhlich auch das langersehnte neue Leben in den Kiez. Und wenn Politik letztlich bedeute, dass Menschen ihr Zusammenleben gestalten, stellt die junge Frau fest, dann sei das hier doch auch ein politischer Ort: "Dass hier halt Gesellschaft gedacht wird, da glaube ich schon echt dran. Einfach so, nebenbei irgendwie."

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