Kölns Sozialdezernentin Henriette Reker (Bild: dpa)
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Überforderte Städte - Kein Platz für Flüchtlinge? - "Was sollen wir tun?"

Kölns Umgang mit Flüchtlingen galt als vorbildlich. Heute herrscht in der Stadt der Notstand. Wie konnte das passieren? Ein Gespräch mit der Sozialdezernentin Henriette Reker. Von Philip Faigle - ein Gastbeitrag von ZEIT ONLINE.

 

Henriette Reker kennt das Dokument, das heute ein Papier des Scheiterns ist. Es ist weitgehend wertlos geworden, weil sich niemand mehr dran hält. Weil sich niemand daran halten kann. 17 Seiten hat das Dokument, verfasst vor rund zehn Jahren, der Titel: Leitlinien zur Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen in Köln. "Eigentlich ein großartiges Papier", sagt Reker.

Henriette Reker ist Sozialdezernentin der Stadt Köln und in normalen Zeiten wäre das Dokument für sie das Maß der Dinge. 2004 hat die Stadt darin festgelegt, wie Köln den Flüchtlingen begegnen will, die dort um Asyl bitten. Es war der Versuch, menschlicher mit den Ankommenden aus aller Welt umzugehen – und klüger. Kleinere Orte für die Erstunterbringung, schnelle Integration mit Sprachkursen, möglichst rascher Wechsel in dezentrale Wohnungen. Köln war mit seinen Standards viele Jahre ein Vorbild für andere Städte. "Heute können wir die Vorgaben einfach nicht mehr einhalten", sagt Reker.

Rund 5.100 Flüchtlinge hat die Stadt im vergangenen Jahr unterbringen müssen. In diesem Jahr sollen es mehr als 10.000 sein – etwa ein Prozent der Bevölkerung. Die Stadt selbst spricht von einem absoluten Notstand und agiert seit Monaten nach der gleichen Logik: Turnhallen wurden für Flüchtlinge geräumt. Rund 250 Asylbewerber sind mittlerweile in einer umgebauten Filiale eines Praktiker-Baumarktes untergebracht. Zudem kaufte die Stadt ein bekanntes Hotel in der Südstadt auf und lässt es nun für viel Geld umbauen. In der Stadtverwaltung heißt es, die Mitarbeiter täten schon alles Mögliche. Der Kölner Flüchtlingsrat aber spricht von "menschenunwürdigen" Zuständen in manchen Einrichtungen. Köln habe einfach kein Konzept, wie es mit den Flüchtlingen umgehen soll.

ZEIT ONLINE: Frau Reker, wie kann es sein, dass eine reiche Stadt wie Köln innerhalb so kurzer Zeit von wenigen tausend Flüchtlingen überfordert ist?

Henriette Reker: Sie müssen die Dynamik sehen. Noch Ende 2013 sind wir – übrigens gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden und Flüchtlingsexperten – davon ausgegangen, dass wir jeden Monat 65 Plätze schaffen müssen. Mittlerweile sind es 600. Die Zahl hat sich innerhalb kurzer Zeit verzehnfacht. Damit konnte einfach niemand rechnen. Köln ist eine wachsende Stadt mit einem akuten Wohnraumproblem. Die oberste Priorität lautet im Moment, dass Menschen nicht unter der Brücke schlafen müssen.

ZEIT ONLINE: Köln hat mittlerweile mehr als 200 Flüchtlinge in einem umgebauten Baumarkt am Stadtrand untergebracht. Das hat Ihnen viel Kritik eingebracht. Verstehen Sie das?

Reker: Natürlich. Niemand kann damit zufrieden sein und ich war anfangs auch strikt dagegen. Aber wir haben mittlerweile auch Menschen in Turnhallen unterbringen müssen, da sind die Räume in dem Baumarkt schon besser. Wir haben fest verankerte Trennwände eingebaut, so dass jeder Bewohner etwas Privatsphäre hat. Ich war persönlich dort und muss sagen: Die Aufenthaltsqualität ist ganz gut geworden. Wir müssen uns immer wieder klar machen, dass es eine Übergangslösung ist – und dass wir nicht viele Alternativen haben.

 

ZEIT ONLINE: Warum ist die Stadt derart unvorbereitet?

Reker: Es stimmt: Wir hätten uns besser vorbereiten können, vielleicht sogar müssen. Köln hatte schon einmal ähnlich hohe Flüchtlingszahlen, und zwar Anfang des Jahrhunderts. Dann gingen die Zahlen rapide runter. Die Stadt hat daraufhin rund 30 Einrichtungen geschlossen, darunter auch einige marode, die uns heute nicht helfen würden. Auch andere Städte haben nicht auf Vorrat gebaut. Dennoch: Einige Schließungen waren im Rückblick ein Fehler.

ZEIT ONLINE: Köln hatte sich ursprünglich vorgenommen, möglichst viele Flüchtlinge in dezentralen Wohnungen unterzubringen. Warum geht das nicht mehr?

Reker: Aus mehreren Gründen. Viele Flüchtlinge haben keinen Wohnberechtigungsschein, wir können sie also nicht im sozialen Wohnungsbau unterbringen. Generell sind Wohnungen in Köln extrem knapp und auch der soziale Wohnungsbau erzielt nicht die Ergebnisse, die wir uns wünschen. Köln ist eine schnell wachsende Stadt, eine Universitätsstadt, es kommen Menschen hierher, die studieren und arbeiten wollen. Sie konkurrieren mit den Flüchtlingen um Wohnraum.

Rund 70 Unterkünfte hat die Stadt in den vergangenen Jahren aufgebaut. Viele von ihnen sind provisorisch. Zwar hat die Stadt im vergangenen Jahr immerhin 250 Flüchtlinge in Wohnungen vermitteln können – etwa doppelt so viel wie in Hamburg. Doch die einstmals hoch gesteckten Ziele, die Flüchtlinge in kleinen dezentralen Wohnungen zu beherbergen, erfüllt die Stadt schon lange nicht mehr. Auch der Kölner Flüchtlingsrat sieht die Not der Stadt und gibt zu, dass die Belastungen gewaltig sind. Er kritisiert jedoch, dass die Stadt mittlerweile selbst einfache Standards bei der Unterbringung radikal unterläuft.

Anders als in anderen Kommunen gibt es in Köln für besonders schutzwürdige Personen – etwa Minderjährige oder Behinderte – keine gesonderte Behandlung – so die Kritik des Flüchtlingsrates. Auch ist die Zahl der Betreuer in den Flüchtlingsheimen skandalös niedrig. Die Stadt argumentiere nach einer Notstandslogik, dabei drohten die Probleme zu einem Dauerzustand zu werden. "Bis heute gibt es keinen Masterplan", heißt es beim Flüchtlingsrat.

Reker hat auf die Kritik bisher mit bemerkenswerter Chuzpe reagiert. Als der örtliche Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki den Zustand einiger Flüchtlings-Unterkünfte der Stadt kritisierte, konterte Reker, anders als der Kardinal habe sie zu verantworten, "dass Menschen ein Dach über den Kopf bekommen."  Für Reker geht es auch um ihre Karriere in der Politik. Im September will sie Oberbürgermeisterin werden, als freie Kandidatin und gegen die etablierten Kandidaten der SPD.

ZEIT ONLINE: In Interviews sagen Sie derzeit immer wieder: "Tempo geht vor Qualität". Was sind die Nebenwirkungen einer solchen Strategie?

Reker: Ich würde nicht von einer Strategie sprechen. Wir lösen gerade ein akutes Problem.

ZEIT ONLINE: Glaubt man dem Flüchtlingsrat, ist eine Nebenwirkung, dass die Zustände in den Unterbringungen zum Teil "menschenunwürdig" sind. Was antworten Sie darauf?

Reker: Sehen Sie: Ich halte die Kritik zum Teil für berechtigt. Ich würde das alles sehr gerne anders machen.  Aber der Flüchtlingsrat hat seine Rolle und ich habe meine. Ich muss dafür sorgen, dass wir überhaupt genug Betten organisiert bekommen. Das ist gerade schon eine gewaltige Herausforderung. Unsere Mitarbeiter arbeiten mit viel Herzblut an Lösungen – aber wir müssen täglich erleben, wie die Belastung für die Stadt steigt.

 

ZEIT ONLINE: In manchen Orten nutzen Geschäftemacher die Not der Städte aus und rufen hohe Preise für Hotels und andere Unterbringungen auf. In Köln auch? 

Reker: Es gibt auch in Köln Leute, die mit der Not der Flüchtlinge Geld verdienen wollen, ja.  

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Reker: Manche Investoren verlangen astronomische Preise für Unterkünfte. Uns wurde zuletzt beispielsweise eine Unterkunft für 25 Euro den Quadratmeter angeboten. Auf solche Deals haben wir uns bisher trotz der Notsituation nicht eingelassen. Wir müssen auch darauf achten, dass wir wirtschaftlich vernünftig handeln und der soziale Friede gewahrt bleibt.

ZEIT ONLINE: Köln hat in der Not mittlerweile 27 Hotels angemietet. Ist das sinnvoll?

Reker: Nochmals: Was sollen wir sonst tun? Es handelt sich um keine noblen Unterkünfte, maximal Zwei- bis Drei-Sterne-Hotels. Wir sind damit auch nicht zufrieden, denn die Form der Unterbringung ist mit Abstand die teuerste von allen. Und es gibt auch da Hoteliers, die hohe Preise aufrufen. Weil wir dem entgegenwirken wollen, haben wir unlängst sogar ein Hotel ersteigert und lassen es jetzt für die Flüchtlinge umbauen.

Rund sechs Millionen Euro gibt die Stadt für das Hotel Bonotel in der Kölner Südstadt aus. Verkündet wurde das Geschäft vergangenes Jahr im Spätsommer. Es war das erste Mal, dass eine Stadt überhaupt ein Hotel komplett gekauft hat. Gegen den Kauf gab es heftigen Protest, vor allem von Investoren, die das Haus gerne weitergeführt hätten. Reker hatte damals schlicht gekontert: "Wir brauchen das Hotel."

ZEIT ONLINE: Was wird die Unterbringung der Flüchtlinge die Stadt in den nächsten Jahren kosten?

Reker: Wir haben im vergangenen Jahr 40 Millionen für die Unterbringung ausgegeben. In diesem Jahr werden es wohl 60 Millionen sein. Für eine seriöse Kostenprognose ist es allerdings zu früh.

ZEIT ONLINE: Wann, glauben Sie, wird die Notstandslogik, mit der die Stadt vorgeht, ein Ende haben?

Reker: Wir müssen langfristig wieder zu einer dezentralen Unterbringung zurückkehren, in eingestreuten Wohnungen, bei Wohnungsbaugesellschaften. Aber im Moment geht es einfach nicht.

Kurz nach dem Gespräch wird die Stadt Köln neue Zahlen veröffentlichen – die Zahl der Flüchtlinge wird in den kommenden Monaten noch einmal steigen. "Fast täglich ändert sich die Lage", sagt ein Sprecher. Die Stadt Köln will darauf wie in den vergangenen Monaten reagieren: von Tag zu Tag, im Notstandsmodus – und ohne einen langfristigen Plan.

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Themenschwerpunkt - Überforderte Städte - Kein Platz für Flüchtlinge?

Deutsche Großstädte sind von den hohen Flüchtlingszahlen besonders betroffen. Nach einer gemeinsamen Recherche von Inforadio und ZEIT ONLINE in den Städten Berlin, Hamburg und Köln gibt es derzeit keine Lösungen, wie Flüchtlinge schnell und angemessen untergebracht werden können. Berlins Integrationssenatorin Kolat räumte ein, dass es schwierig sei, im selben Tempo neue Unterkünfte zu errichten, wie die Zahl der Flüchtlinge wachse. Sozialsenator Czaja sieht in der Hauptstadt allerdings durchaus Fortschritte bei der Unterbringung von Flüchtlingen.