Vor 60 Jahren: Start in ein neues Leben

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Westdeutschland, 1955: Die Wirtschaft boomt, es werden dringend Arbeitskräfte benötigt. Italien steckt dagegen in einer tiefen Krise. Und so kommen die ersten "Gastarbeiter" über die Alpen nach Deutschland, damals zunächst kritisch beäugt von den Einheimischen und untergebracht in oft kargen Baracken. Vor 60 Jahren hat sich Deutschland auf den Weg zu einem Einwanderungsland gemacht. Ein steiniger Weg, der das Land ungemein bereichert und herausfordert zugleich. Wir blicken zurück.

Anwerbeabkommen

Um ihren Bedarf an Arbeitskräften zu decken, schließt die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1955 und 1968 Abkommen, insbesondere mit südeuropäischen Staaten. Durch die Anwerbeabkommen erhalten die ausländischen Arbeitnehmer eine deutsche Arbeitserlaubnis. Die Abkommen regeln die Arbeitsvermittlung – von der Bewerberauswahl bis zum Familiennachzug. Das erste Anwerbeabkommen schließt die Bundesrepublik 1955 mit Italien. Es folgen Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko und Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). In Deutschland werden die neuen Arbeitnehmer zunächst befristet angestellt, für ein paar Jahre. Später wird die Dauer verlängert, da die deutschen Fabriken nicht ständig neue Arbeiter anlernen wollen. Die meisten "Gastarbeiter“ sind ungelernte Arbeitskräfte. Vor allem gesunde Männer unter 40 Jahren und junge Ungelernte erhalten die ersehnte Arbeitserlaubnis. Jeder Bewerber wird in den Verbindungsbüros in den Partnerländern genau geprüft - anhand von Zeugnissen, Lesetests, Arbeitsaufträgen und Gesundheitschecks. Kaum einer spricht bei der Ankunft Deutsch oder Englisch.

Während der Ölpreiskrise 1973 verhängt Willy Brandt einen Anwerbestopp: Laufende Verträge bleiben bestehen, allerdings werden keine neuen geschlossen. Damals arbeiten mehr als zwei Millionen Gastarbeiter in der Bundesrepublik. Viele von ihnen entscheiden sich, weiter in Deutschland zu bleiben und holen ihre Familien nach. Deutschland wird zum Einwanderungsland.

Fragen und Antworten

  • Warum wurden "Gastarbeiter" benötigt?

  • Wie kam es zu den ersten “Gastarbeitern“?

  • Wo lebten Gastarbeiter zunächst?

  • Wie reagierten die Deutschen auf die neuen Mitbewohner?

  • Wie lange durften Gastarbeiter zunächst bleiben?

  • Wann wurde Deutschland zur neuen Heimat?

  • Wie war die Situation in der DDR?

Wer kam wann von wo?

Impressionen

Italienische Gastarbeiter 1970 in Wolfsburg (Bild: IMAGO/Rust)
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In den Anfangsjahren waren "Gastarbeiter" meist ohne Familie in Deutschland...

Italienische Gastarbeiter 1970 in Wolfsburg (Bild: IMAGO/Rust)
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...und freuten sich auf Gelegenheiten, in die Heimat zu reisen...

Italienische Gastarbeiter 1970 in Wolfsburg (Bild: IMAGO/Rust)
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...wie hier am Bahnhof Wolfsburg am 19. Dezember 1970.

Italienische Gastarbeiter 1970 in Wolfsburg (Bild: IMAGO/Rust)
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Italienische VW-Beschäftigte fahren über die Weihnachtstage nach Hause.

Wie Deutschland zum Einwanderungsland wurde - eine Chronologie

  • Am 23. Mai wird das Grundgesetz verkündet. Artikel 16 regelt das Asylrecht, Artikel 116 den Zuzug von Aussiedlern.

  • Erstes Arbeitnehmer-Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien.

  • Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland.

  • Weitere Anwerbeabkommen, u.a. mit der Türkei. Der Mauerbau beendet den Zustrom von Menschen aus der DDR.

  • Der einmillionste "Gastarbeiter", ein Portugiese, trifft in Köln ein und erhält als Begrüßungsgeschenk ein Motorrad.

  • Die DDR schließt Anwerbeabkommen u.a. mit Ungarn, Polen, Algerien, Kuba, Mosambik und Vietnam.

  • Höhepunkt der "Gastarbeiter"-Anwerbung: Das Jahr mit den bis dato meisten Zuzügen. Zu diesem Zeitpunkt leben drei Millionen "Gastarbeiter" in Westdeutschland.

  • Die Bundesregierung erlässt aufgrund der Ölpreiskrise einen Anwerbestopp. Die Anwerbeabkommen sind damit ungültig.

  • Ausländische Arbeitnehmer, die schon länger in Deutschland sind, erhalten eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Das Amt des Beauftragten der Bundesregierung zur Förderung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen wird eingerichtet.

  • Asylverfahren werden per Gesetz beschleunigt. Seit Mitte der 1970er Jahre waren die Bewerberzahlen deutlich angestiegen.

  • Ein Gesetz zur Förderung der "Rückkehrbereitschaft“ von "Gastarbeitern" tritt in Kraft.

  • Langjährig in Deutschland lebende Ausländer erhalten einen Regelanspruch auf Einbürgerung.

  • Höhepunkt der Zuwanderung: Über 1,2 Millionen Menschen kommen nach Deutschland, darunter 440.000 Asylsuchende.

  • Mit dem "Asylkompromiss“ wird das Asylrecht geändert. Die Zahl der Asylsuchenden sinkt daraufhin deutlich (1994: 112.000).

  • Mit dem neuen Ausländergesetz wird die Rechtsstellung in Deutschland lebender Ausländer verbessert. Das Amt der Bundesausländerbeauftragten wird erstmals im Gesetz verankert.

  • Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes: In Deutschland geborene Kinder von Ausländern erhalten unter bestimmten Bedingungen die deutsche Staatsbürgerschaft. Bundeskanzler Schröder startet die Green-Card-Initiative. Bis zu 20.000 ausländische Computerexperten sollen eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Tatsächlich kommen aber bis 2004 nur knapp 18.000 Fachkräfte. Bundesinnenminister Schily setzt eine überparteiliche Zuwanderungskommission ein. 2001 legt sie ihren Bericht vor.

  • Nach langen Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat tritt das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft. Es regelt erstmalig staatliche Integrationsangebote für Zuwanderer (Ausländer, Spätaussiedler, Unionsbürger) einheitlich. Das Kernstück bilden die Integrationskurse. Ihr Ziel ist es, Zugewanderte mit den Lebensverhältnissen in Deutschland so weit vertraut zu machen, dass sie ohne Hilfe und Vermittlung Dritter in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens selbständig handeln können.

  • Erster Integrationsgipfel: Damit wird die Grundlage für eine enge Zusammenarbeit von Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft geschaffen. Migranten werden zu gleichberechtigten Dialogpartnern in der Integrationspolitik.

  • Mit der Novelle des Zuwanderungsgesetzes wird das Nachzugsalter für ausländische Ehepartner auf mindestens 18 Jahre festgelegt. Außerdem müssen sie vor der Einreise einfache deutsche Sprachkenntnisse nachweisen.

    Das Bleiberecht wird Gesetz. Es gibt langjährig geduldeten Flüchtlingen eine dauerhafte Perspektive: Wer bis Ende 2009 einen Arbeitsplatz nachweist, kann in Deutschland bleiben. Der Zuzug von ausländischen Unternehmern und Hochqualifizierten wird erleichtert.

  • Einführung von Einbürgerungstests: Wer Deutscher werden will, muss Grundkenntnisse über Geschichte, Kultur, Recht und Alltagsleben in Deutschland nachweisen.

    Bundeskanzlerin Merkel empfängt 200 Gastarbeiter der ersten Generation. Mit der Veranstaltung "Deutschland sagt Danke“ wird ihre Aufbauleistung für Deutschland erstmals auf höchster Regierungsebene gewürdigt.

     

    Quelle: Bundesregierung

Interviews und Beiträge

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  • Bahnhof Wolfsburg: VW-Gastarbeiter aus Italien auf Weihnachtsurlaub Richtung Italien, 1970 [dpa]
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    Mo 07.12.2015 | 08:35 | Wirtschaft aktuell - 60 Jahre Gastarbeiter in Deutschland

    Vor 60 Jahren wurden die ersten Gastarbeiter angeworben. In den folgenden zwei Jahrzehnten arbeiteten schätzungsweise 14 Millionen von ihnen in der Bundesrepublik Deutschland. Viele gingen später in ihre Heimat zurück, aber viele blieben auch. Was wäre ohne sie geworden? Und was kann Deutschland daraus für die Flüchtlingskrise lernen? Ein Beitrag von Anja Dobrodinsky.