Bahnhof Wolfsburg: VW-Gastarbeiter aus Italien auf Weihnachtsurlaub Richtung Italien, 1970 [dpa]
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- 60 Jahre Gastarbeiter in Deutschland

Vor 60 Jahren wurden die ersten Gastarbeiter angeworben. In den folgenden zwei Jahrzehnten arbeiteten schätzungsweise 14 Millionen von ihnen in der Bundesrepublik Deutschland. Viele gingen später in ihre Heimat zurück, aber viele blieben auch. Was wäre ohne sie geworden? Und was kann Deutschland daraus für die Flüchtlingskrise lernen? Ein Beitrag von Anja Dobrodinsky.

Körperlich schwere, eintönige oder schmutzige Arbeit am Fließband, im Akkord oder in Schichten – die wurde in den 60er Jahren oft von Gastarbeitern verrichtet. 1955 vereinbarte die Bundesrepublik das erste Anwerbeabkommen mit Italien. Denn die Wirtschaft wuchs kräftig und die Arbeitslosigkeit sank, erklärt Axel Plünnecke, Zuwanderungsexperte vom Institut der Deutschen Wirtschaft IW Köln. Noch 1950 habe es 1,9 Arbeitslose gegeben, 1960 herrschte dann Vollbeschäftigung, und in den ersten Industrien, wie der Auto- und Montanindustrie, im Bergbau seien die Fachkräfte zunehmend knapp geworden.

Es folgten Abkommen unter anderem mit Spanien, Griechenland und der Türkei. Die ersten Gastarbeiter kamen dann 1961. Es waren meist ungelernte junge Männer. Sie sollten eigentlich nur vorübergehend bleiben, erklärt Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Noch nahm man an, dass die Arbeitskräfte nicht dauerhaft in Deutschland bleiben würden. Vorgesehen war "ein rotierendes Verfahren. Arbeitsverträge wurden für zwei Jahre abgeschlossen. Und da liefen aber die Arbeitgeber alsbald Sturm", so Karl Brenke.

Sie wollten die gut eingearbeiteten Kräfte nicht wieder verlieren. 1973, als die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik wieder zunahm, gab es einen Anwerbestopp. Doch viele Gastarbeiter blieben und holten auch ihre Familien nach. Vier Millionen lebten Mitte der 70er Jahre in Deutschland. Besondere Bedeutung hatten die Gastarbeiter für Westberlin. Der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Rudi Pietschker konstatierte damals: "Diese ausländischen Mitbürger haben uns nach dem Bau der Mauer, als bei uns in Westberlin 30.000 Arbeitsplätze fehlten, praktisch davor bewahrt, dass unsere Industrie austrocknete, und haben uns ermöglicht, diese Stadt lebensfähig zu halten."

Bis heute spielen die Gastarbeiter und ihre Kinder eine große Rolle in der deutschen Wirtschaft. Ohne sie wäre das demografische Problem deutlich größer. Hatten noch 70 Prozent der türkischen Gastarbeiter der ersten Stunde keine abgeschlossene Berufsausbildung, sind es bei ihren Kindern nur 30 Prozent. Regionen, die in den 60er Jahren viele Gastarbeiter aufnahmen, profitieren heute noch, erklärt Axel Plünnecke vom IW Köln: "Beispielsweise in Baden-Württemberg, wo sie sehr viele spanische, italienische Gastarbeiter haben, diesen Regionen fällt es auch heute viel leichter, Fachkräfte aus Italien oder Spanien zu gewonnen. Es gibt Netzwerke."

Oft werden Parallelen gezogen zwischen den Gastarbeitern von damals und den Flüchtlingen von heute. Das sei nicht vergleichbar, findet Plünnecke. Man könne aber aus der Vergangenheit lernen. Es sei unwahrscheinlich, dass in den Regionen, aus denen die Flüchtlinge kommen, sehr bald wieder Frieden herrsche. Daher müsse man die Integration von Anfang an mitdenken. "Das ist, glaube ich, die Lehre, die wir aus dem Gastarbeiterprogramm ziehen", sagt Axel Plünnecke vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln.