10 Ideen - Das braucht Deutschland - Idee 3: Soziologe Armin Nassehi
Inforadio fragt kluge Köpfe: Was folgt aus diesen großen Veränderungen? Wie umgehen mit ihnen? Und das ist auch das wissenschaftliche wie gesellschaftspolitische Thema von Armin Nassehi. Der Sohn einer katholischen Schwäbin und eines Persers ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und seit einigen Jahren Herausgeber der Zeitschrift "Kursbuch".
Seite 2 von 3
Christian Wildt: Und die betonen erst nur das "Wir". Was ist denn dieses "Wir"? Gibt es das überhaupt, dieses "Wir"? "Wir Deutschen" zum Beispiel, was die AfD jetzt zum großen Teil bemüht?
Armin Nassehi: Wenn man etwa mit AfD-Leuten spricht oder mit richtigen Rechten spricht, ist es ja ganz interessant, dass sie sich tatsächlich auf dieses "Wir" kaprizieren, auf das Eigene, auf die Nation, auf das Unvordenkliche, das dahinter steht. Interessant ist, wenn man mal nachfragt, was das denn eigentlich sei, kann man entweder gar nichts dazu sagen oder geradezu peinliche Sätze. Das ist ja das Interessante eigentlich, also dieses Eigene, man könnte sagen diese populistische Idee, dass es so etwas wie ein Subjekt gibt, das das Volk ist, das auch noch eine einzige authentische Meinung hat. Das ist ja eigentlich, würde ich fast sagen, die Lebenslüge des rechten Denkens, weil wenn man genau hinguckt, stimmt das natürlich nicht. Natürlich hat es permanent in der Geschichte der modernen Gesellschaft in allen Staaten übrigens Versuche gegeben, die Nation durch bestimmte Techniken mit einem Eigenen auszustatten: Mit einer eigenen Literatur, mit einer eigenen Geschichte, womöglich eigenen religiösen Traditionen, mit eigener Folklore usw. Aber das kann ja heute tatsächlich nur noch so eine Art Benutzeroberfläche sein. Ich würde von mir selber sagen, dass mein Denken und mein Leben tief durchtränkt ist durch deutsche Tradition. Aber damit auszudrücken zu können, was das Eigene ist, das ist fast unmöglich.
Christian Wildt: Nun gibt es aber dieses Bedürfnis, das haben Sie gerade geschildert, bei einer Gruppe, und die wächst offenbar. Wie würden Sie das bewerten? Und vielleicht: Was würden Sie dem entgegenstellen? Wie kann sich denn so eine komplexe Gesellschaft, wie Sie die genannt haben, dann selber definieren? Man braucht doch ein Stück Gemeinsamkeit und Identität.
Armin Nassehi: Das ist die Frage, ob man dieses Stück Gemeinsamkeit und Identität tatsächlich in so einem abstrakten Sinne braucht. Also wenn man empirisch, ich bin ja ein Sozialwissenschaftler, empirisch hinguckt, woraus sich eigentlich Lebenslagen und Lebensformen speisen, dann sind es ganz, ganz selten diese abstrakten Chiffrierungen, sondern dann ist das so was wie Alltagspraxis. Dann ist das die Frage: Kann ich in meinem Leben so etwas wie Erwartbarkeiten formulieren? Kann ich sagen, es gibt gewisse Sicherheiten, die in meinem Nah-Raum durchaus funktionieren? Habe ich eine Perspektive, eine zeitliche Perspektive für mich und meine Kinder? Gelten manche sozusagen Fixsterne in meinem Denken auch noch, wenn sich vieles außen ändert? Engländer würden sagen: "Life is more pedestrian" - es findet viel stärker sozusagen auf dem Boden der Praxis statt. Also ich glaube, dass die Gefahr, dass Leute dieser populistischen Idee, dass es so ein "Gesamtsubjekt Volk" gibt, hinterherlaufen, eher ein Krisenphänomen ist. Und dem kann man eigentlich nur begegnen, indem man in dieser unübersichtlichen Welt noch ein paar Übersichtlichkeiten herstellt. Diese Übersichtlichkeiten sind sicherlich nicht diese alten Chiffren der Nation oder so etwas, sondern der Versuch: Wie kann man eigentlich praktische Verhältnisse schaffen, in denen die Menschen leben können? Ich habe mich im Rahmen der Flüchtlingskrise sehr, sehr stark auch darauf kapriziert, auch mal aus den Städten rauszugehen, in Bayern, in Oberbayern mal zu gucken, was an den kleinen Orten eigentlich stattfindet. Und es ist hochinteressant, dass dort zum Teil Integrationsbemühungen viel, viel - wie soll man sagen? - ja, praktischer und besser funktionieren als in den groben Städten, weil die Leute sehen: Da kommen Leute, die haben die gleichen Probleme wie wir. Wir müssen gucken, dass unsere Kinder über den Tag kommen. Wir haben Gesundheitsprobleme. Wir müssen sehen, dass wir eine Arbeitsstelle finden. Wir brauchen irgendwie Leute, mit denen wir reden können - und zwar über Alltägliches. Und dafür haben die zum Teil ein Faible. Also es ist ganz interessant, dass das hier wieder ein Hinweis darauf ist, dass sozusagen die praktischen Tätigkeiten tatsächlich funktionieren müssen. Man kann das ja an sich selber tatsächlich sehen. Was sind eigentlich die Anker in meinem Leben? Das sind doch tatsächlich die Erwartbarkeiten der Menschen, mit denen ich permanent zu tun habe und die Frage, wie wir eigentlich mit Leuten umgehen, die sozusagen nicht zu unserem absoluten Nah-Raum gehören. Und dafür brauchen wir Erwartungssicherheit. Deshalb ist der Terrorismus ja auch so eine unfassbare Bedrohung. Statistisch gesehen ist es hoch unwahrscheinlich, von Terrorismus bedroht zu sein. Aber was der moderne Terrorismus im Moment macht, das ist ja tatsächlich diese Sicherheit von Lebenslagen in Frage zu stellen, dass man sozusagen in den Alltag eindringt und Alltagssituationen, wie am Breitscheidplatz vor einigen Wochen, sozusagen in Alltagssituationen eindringt und das Gefühl, dass eigentlich ein alltägliches Leben daraus besteht, dass man irgendwie typisieren kann, wie der Andere sich verhält, in Frage gestellt wird.
2 Kommentare
Das Grundproblem: „Wir haben im Moment ein stabiles Konfliktsystem - die einen sind die Bestätigung immer für die anderen. Wenn es gelingt, von linksliberaler Seite her, konservative Lebensformen wirklich ernst zu nehmen, dann wäre schon viel gewonnen. Dafür braucht man sensibleres Sprechen. Man muss womöglich auch mit den "Schmuddelkindern" reden, um rauszukriegen, wie die eigentlich ticken. Das sind ja nicht alles böse Menschen.“
Danke für diesen ausgewogenen und fairen Beitrag, Hr. Nassehi. Sie bemühen sich beide Seiten des Konfliktes zu betrachten und beziehen auch die Schmuddelkinder vom Land mit ein. Wer sich verstanden und ernst genommen fühlt, der braucht nicht mehr auf die Barrikaden steigen. Dieser Einsicht folgen die Leitmedien nur widerwillig und vieles erhält erst Geltung, wenn es jemand mit Migrationshintergrund sagt. So können sie zu einem dringend benötigten Mediator und Brückenbauer für beide Seiten werden