Mit dem Navi in Berlin unterwegs (Bild: imago/Rüdiger Wölk)

- Wie viel Orientierungssinn haben wir noch?

Computerchips in Brillen, selbstfahrende Autos, smarte Städte, in denen sogar die Straßenlaternen und Mülltonnen mitdenken. Was macht das eigentlich mit uns selbst? Wie verändert sich unser Denken und Handeln, wenn Computer und Maschinen uns einen großen Teil unserer Aufgaben abnehmen? Die Hirnforschung hat dazu noch keine fundierten Erkenntnisse, dafür ist es noch zu früh. Inforadio-Reporter Oliver Soos hat dennoch nach einer Antwort gesucht und mit zwei Kollegen ein Experiment durchgeführt.

Meine Inforadio-Reporter-Kollegen Dena Kelishadi und Thomas Rautenberg sitzen völlig ahnungslos neben mir im Auto.

An ihnen will ich testen, wie das Erinnerungsvermögen funktioniert: was behält man von seiner Umgebung, wenn man mit einem Stadtplan unterwegs ist - und was, wenn man sich auf ein Navigationsgerät verlässt?

Wir fahren nach Berlin-Spandau in die Wilhelmstadt, eine Gegend, die beide nicht kennen. Thomas steigt erstmal aus, Dena und ich fahren weiter, bis zum Park am Grimnitzsee. Dena ist meine erste Testkandidatin: "Okay, Dena, wir sind hier in Spandau in der Götelstraße. Deine Aufgabe: Du bekommst einen Stadtplan. Fahre zum Ebersdorfer Platz. Du kannst jederzeit rechts ran fahren, anhalten und nochmal auf den Plan gucken, alles kein Problem."

Dena studiert den Stadtplan: Das Ziel liegt etwa 3 Kilometer entfernt, in nordwestlicher Richtung. Nach wenigen Metern muss man rechts abbiegen, in ein Wohnviertel, dort geht es nach drei Häuserblocks links weiter. Dann schlängelt sich die Straße S-förmig an einem Sportplatz und einer Kirche vorbei, bis zu einem zweiten Wohngebiet. Dort zweimal an der richtigen Stelle rechts abbiegen und man ist am Ziel.

Dena versucht sich die Strecke und die Straßennamen einzuprägen: "Das ist die Pichelsdorferstraße, von der Pichelsdorfer auf die Adamstraße und fahre dann relativ lange gerade aus. Da sehe ich dann auch die Melanchthon-Kirche, die wird mir dann auch helfen, als Orientierungspunkt. Dann geht es weiter an der Schmidt-Knobelsdorf-Straße, bis zum Carlo-Schmid-Platz."

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Das vernetzte Ich - Das vernetzte Über-Ich

Computer und Maschinen nehmen dem "vernetzten Ich" in der Zukunft immer mehr Aufgaben ab - und oft auch das Denken. Was macht das eigentlich mit unserer Fähigkeit, zu denken? Werden wir dümmer? Oder schlauer? Mit dieser Frage setzen wir uns am Donnerstag auseinander.

Dena startet den Motor und fährt los, den Stadtplan legt sie auf ihren Schoß: "Ich bin 27, werde bald 28. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir groß mit Stadtplänen unterwegs waren. Wir waren schon immer eigentlich mit dem Navigationsgerät unterwegs, sobald es darum ging, in eine andere Stadt zu gehen oder so."

Zwischendurch muss Dena immer wieder an roten Ampeln warten. Diese Zeit nutzt sie, um einen Blick auf den Stadtplan werfen. Nach 10 Minuten ist es dann soweit: "Wenn ich das richtig sehe, dann führt mich die Straße jetzt direkt ans Ziel. Sie haben ihr Ziel erreicht", lacht sie.

"Jetzt kommt die nächste Aufgabe: Du gibst den Stadtplan ab – und fährst wieder zurück zum Ausgangspunkt!" "Nein! Oh oh…" Dena ist ein bisschen nervös, hat Angst sich zu blamieren. Doch dafür gibt es keinen Grund, sie fährt exakt denselben Weg zurück: "Wo sind wir hier eigentlich? Ach da, da ist die Kirche wieder. Vorne müssen wir wieder rechts abbiegen, in die Pichelsfdorfer Straße." "Das hast du dir gemerkt?" "Ja." "Hast Du eigentlich die Karte noch im Kopf?" "Also, wenn ich mir die jetzt noch mal abrufen müsste, dann weiß ich schon, wo unser Startpunkt war, unten rechts, oben links war unser Ziel und dazwischen, so in etwa wie es aussieht, ja kann ich mir vorstellen. Jetzt nicht im Detail, aber schematisch."

Dena kommt fast genau am Ausgangspunkt an. Nur die allerletzte Abzweigung findet sie nicht, weil sie nach der Götelstraße sucht. Die Götelstraße ändert aber kurz vor der ersten Kreuzung ihren Namen und wird zur Genfenbergstraße. Diese kleine Gemeinheit hatte Dena auf der Hinfahrt übersehen, doch insgesamt hat sie sich gut geschlagen.

Nun kommt Thomas Rautenberg zu uns ins Auto. Er muss auch dieselbe Strecke fahren - allerdings bekommt er dafür ein Navi. Schnell den Namen eintippen, das Navi an der Frontscheibe befestigen und los geht die Fahrt.

Thomas fährt deutlich schneller und selbstbewusster als Dena. Die Straßennamen und auch sonstige Wegmarken scheinen ihn nicht sonderlich zu interessieren. Er hat viel Zeit zum Plaudern und erzählt, dass er als Reporter regelmäßig mit dem Navi unterwegs ist: "Termindruck und dann lange rumsuchen, ich sag mal, die Parkplatzsuche ist ja dann auch schon wieder was, was Zeit frisst. Aber bis dahin möchte man ja auf kürzestem Weg ans Ziel kommen."

Eben dort, am Ebersdorfer Platz,  bekommt auch Thomas seine zweite Aufgabe: "Das Navi wird jetzt ausgestellt und du musst jetzt aus deinem Gedächtnis heraus wieder zum Ausgangspunkt zurück finden." "Auf dem gleichen Weg unbedingt?" "Zum Ausgangspunkt zurück finden."

Thomas entscheidet sich für einen vermeintlich einfacheren Weg. Statt zweimal links ums Eck zu biegen, fährt er geradeaus weiter, bis zur Hauptstraße, die uns zurückführen soll. Was er nicht ahnt: an der Hauptstraße gibt es ein Stück weiter vorne eine Gabelung. Thomas fährt auf dem falschen Arm - statt nach Südosten, Richtung Nordosten. Nach ein paar hundert Metern fällt ihm auf, dass irgendetwas nicht stimmt: "Toll. Sieht ja schon mal gut aus hier."

Schließlich kommt er in einem völlig anderen Wohngebiet an und fährt ratlos ein paar Straßen hin und her. Er erkennt nichts - und gibt auf: "Jetzt wäre wirklich nur noch 'trial and error'. Jetzt wäre wirklich bloß noch probieren. Ich gebe Thomas den Stadtplan und er stellt erstaunt fest, dass er genau zwischen dem Start und Zielpunkt gelandet ist. Davor war er zwei Kilometer zu weit im Norden: "Ich dachte, dass ich die Grundorientierung drin hab. Stimmt ja auch, bis zur Wilhelmstraße bin ich ja gekommen. Bloß dann hätte ich eine weiter gemusst. Und wenn du dann einmal raus bist, dann ist es vorbei. Ist eben alles fremd."

Ich bin zufrieden mit dem Test. Auch wenn er wissenschaftlich zweifelhaft sein mag, zeigt er doch, wie uns der Orientierungssinn verloren geht, wenn wir uns auf Navigationsgeräte verlassen. Von dem Experiment will ich Michael Pauen erzählen, er ist Professor für "Philosophie des Geistes" an der Berliner Humboldt Universität und beschäftigt sich mit Fragen des Denkens und Bewusstseins: "Es gehen Dinge verloren. Natürlich gibt es eine reale Möglichkeit, dass unser Orientierungssinn weniger stark trainiert wird, weil wir uns auf Navigationsgeräte verlassen. Und vermutlich wird es auch so sein, dass unsere Erinnerungsfähigkeit – und das zeigt ja auch das Beispiel, das sie genannt haben – abnehmen könnte. Aber ich glaube, es wäre völlig voreilig, daraus zu schließen, unsere kognitiven Fähigkeiten würden insgesamt abnehmen. Ich glaube, dass es einfach dazu führt, dass wir Ressourcen frei haben und die auf andere Möglichkeiten konzentrieren."

Denn in der Geschichte habe es immer wieder kulturelle und technische Fortschritte gegeben, bei denen andere Dinge auf der Strecke blieben, so Pauen: "Schon bei Sokrates finden sie das: Ganz schlimm, die Erfindung der Schrift, weil damit das menschliche Erinnerungsvermögen beeinträchtigt wird. In der Antike gab es also eine ganz weit ausgearbeitete Erinnerungskultur, also man konnte ich Griechenland – vermutlich nicht jeder, aber doch so einige – Ilias und die Odyssee auswendig. Das ist eine ganze Menge, wenn man sich das mal anschaut. Aber insgesamt kann man natürlich ganz schlecht bestreiten, dass die Entwicklung, diese neuen Medien insgesamt einen ganz massiven Fortschritt dargestellt haben. Einen Fortschritt in unseren Fähigkeiten, Wissen zu speichern und Wissen weiter zu geben – und es damit auch eben weiter zu entwickeln."

Übertragen auf meinen Reporter-Kollegen Thomas Rautenberg heißt das: Er kann mit gutem Gewissen weiter mit dem Navi fahren.

Auch wenn er sich dadurch weniger Wegstrecken merkt, hat er doch den Kopf frei für andere Dinge: z.B. Radio hören, um besser informiert zu sein.