Mit dem Navi in Berlin unterwegs (Bild: imago/Rüdiger Wölk)

- Wie viel Orientierungssinn haben wir noch?

Computerchips in Brillen, selbstfahrende Autos, smarte Städte, in denen sogar die Straßenlaternen und Mülltonnen mitdenken. Was macht das eigentlich mit uns selbst? Wie verändert sich unser Denken und Handeln, wenn Computer und Maschinen uns einen großen Teil unserer Aufgaben abnehmen? Die Hirnforschung hat dazu noch keine fundierten Erkenntnisse, dafür ist es noch zu früh. Inforadio-Reporter Oliver Soos hat dennoch nach einer Antwort gesucht und mit zwei Kollegen ein Experiment durchgeführt.

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Thomas fährt deutlich schneller und selbstbewusster als Dena. Die Straßennamen und auch sonstige Wegmarken scheinen ihn nicht sonderlich zu interessieren. Er hat viel Zeit zum Plaudern und erzählt, dass er als Reporter regelmäßig mit dem Navi unterwegs ist: "Termindruck und dann lange rumsuchen, ich sag mal, die Parkplatzsuche ist ja dann auch schon wieder was, was Zeit frisst. Aber bis dahin möchte man ja auf kürzestem Weg ans Ziel kommen."

Eben dort, am Ebersdorfer Platz,  bekommt auch Thomas seine zweite Aufgabe: "Das Navi wird jetzt ausgestellt und du musst jetzt aus deinem Gedächtnis heraus wieder zum Ausgangspunkt zurück finden." "Auf dem gleichen Weg unbedingt?" "Zum Ausgangspunkt zurück finden."

Thomas entscheidet sich für einen vermeintlich einfacheren Weg. Statt zweimal links ums Eck zu biegen, fährt er geradeaus weiter, bis zur Hauptstraße, die uns zurückführen soll. Was er nicht ahnt: an der Hauptstraße gibt es ein Stück weiter vorne eine Gabelung. Thomas fährt auf dem falschen Arm - statt nach Südosten, Richtung Nordosten. Nach ein paar hundert Metern fällt ihm auf, dass irgendetwas nicht stimmt: "Toll. Sieht ja schon mal gut aus hier."

Schließlich kommt er in einem völlig anderen Wohngebiet an und fährt ratlos ein paar Straßen hin und her. Er erkennt nichts - und gibt auf: "Jetzt wäre wirklich nur noch 'trial and error'. Jetzt wäre wirklich bloß noch probieren. Ich gebe Thomas den Stadtplan und er stellt erstaunt fest, dass er genau zwischen dem Start und Zielpunkt gelandet ist. Davor war er zwei Kilometer zu weit im Norden: "Ich dachte, dass ich die Grundorientierung drin hab. Stimmt ja auch, bis zur Wilhelmstraße bin ich ja gekommen. Bloß dann hätte ich eine weiter gemusst. Und wenn du dann einmal raus bist, dann ist es vorbei. Ist eben alles fremd."

Ich bin zufrieden mit dem Test. Auch wenn er wissenschaftlich zweifelhaft sein mag, zeigt er doch, wie uns der Orientierungssinn verloren geht, wenn wir uns auf Navigationsgeräte verlassen. Von dem Experiment will ich Michael Pauen erzählen, er ist Professor für "Philosophie des Geistes" an der Berliner Humboldt Universität und beschäftigt sich mit Fragen des Denkens und Bewusstseins: "Es gehen Dinge verloren. Natürlich gibt es eine reale Möglichkeit, dass unser Orientierungssinn weniger stark trainiert wird, weil wir uns auf Navigationsgeräte verlassen. Und vermutlich wird es auch so sein, dass unsere Erinnerungsfähigkeit – und das zeigt ja auch das Beispiel, das sie genannt haben – abnehmen könnte. Aber ich glaube, es wäre völlig voreilig, daraus zu schließen, unsere kognitiven Fähigkeiten würden insgesamt abnehmen. Ich glaube, dass es einfach dazu führt, dass wir Ressourcen frei haben und die auf andere Möglichkeiten konzentrieren."

Denn in der Geschichte habe es immer wieder kulturelle und technische Fortschritte gegeben, bei denen andere Dinge auf der Strecke blieben, so Pauen: "Schon bei Sokrates finden sie das: Ganz schlimm, die Erfindung der Schrift, weil damit das menschliche Erinnerungsvermögen beeinträchtigt wird. In der Antike gab es also eine ganz weit ausgearbeitete Erinnerungskultur, also man konnte ich Griechenland – vermutlich nicht jeder, aber doch so einige – Ilias und die Odyssee auswendig. Das ist eine ganze Menge, wenn man sich das mal anschaut. Aber insgesamt kann man natürlich ganz schlecht bestreiten, dass die Entwicklung, diese neuen Medien insgesamt einen ganz massiven Fortschritt dargestellt haben. Einen Fortschritt in unseren Fähigkeiten, Wissen zu speichern und Wissen weiter zu geben – und es damit auch eben weiter zu entwickeln."

Übertragen auf meinen Reporter-Kollegen Thomas Rautenberg heißt das: Er kann mit gutem Gewissen weiter mit dem Navi fahren.

Auch wenn er sich dadurch weniger Wegstrecken merkt, hat er doch den Kopf frei für andere Dinge: z.B. Radio hören, um besser informiert zu sein.