Der Journalist Christoph Reuter berichtet für das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" über Syrien, den Irak und Afghanistan.
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Vis à vis - Christoph Reuter: Afghanistan darf nicht ignoriert werden

Der Journalist Christoph Reuter berichtet für das Nachrichtenmagazin über Krisenregionen. Für sein neues Buch ist er monatelang durch Afghanistan gefahren. Reuter warnt im Gespräch mit Wolf Siebert davor, die machthabenden Taliban völlig zu ignorieren - denn dann drohe vielen Menschen der Hungertod.

Christoph Reuter war in den vergangenen Jahren in vielen Ländern, in denen es Krisen und Kriege gab: in Syrien, im Irak und in Afghanistan. Für sein neues Buch "Wir waren glücklich hier - Afghanistan nach dem Sieg der Taliban" hat der "Spiegel"-Korrespondent unter anderem Regionen besucht, die jahrelang als No-Go-Areas galten, weil man dort mit Anschlägen der Taliban rechnen musste.

Jetzt sind die Taliban in Afghanistan an der Macht. Um ihr Vorgehen zu verstehen, müsse man zwei extreme Gegensätze berücksichtigen, erklärt Reuter. "Einerseits sagen sie: Unsere Einheit, dass wir loyal zueinander sind, dass Leute sterben für dieses Ziel, dass wir nicht korrupt sind, hat uns den Sieg, die Kontrolle über das ganze Land, Ruhe und Frieden beschert", so der Journalist.

Die Taliban seien der Meinung, wenn sie diese Einheit aufgeben würden, würden sie sich spalten, die Macht wieder verlieren und es käme zu einem neuen Bürgerkrieg. Deswegen würden sie offiziell stets den Anordnungen des obersten Emirs aus Kandahar folgen, sagt Reuter.

Immerhin herrscht Frieden


"Das ganze Land wird von ihnen kontrolliert. Das ist etwas, das man hier oft unterschätzt: was es bedeutet, wenn kein Krieg mehr herrscht", erklärt er. "Afghanistan hat bis auf winzige Pausen über 40 Jahre Krieg hinter sich." Der Frieden sei die unabdingbare Voraussetzung, dafür dass sich im Land eine Veränderung einstellen könne.

"Ob das dann passieren wird, werden wir sehen", meint der Journalist. "Aber nichts wäre schlimmer, als wenn das Land wieder im Bürgerkrieg versinkt." Da komme der Gegensatz zur Einheitlichkeit ins Spiel, denn inoffiziell würden viele Taliban auf der mittleren und unteren Ebene einsehen, dass die von oben vorgegebenen Regeln in der Praxis nicht funktionieren, etwa der Ausschluss von Frauen aus so vielen Bereichen.

Veränderung müsste lokal beginnen


Genau an diesem Punkt könne und müsse man ansetzen, meint der "Spiegel"-Korrespondent. Denn die Taliban komplett zu ignorieren, hieße, dass westliche Länder irgendwann für den Hungertod von hunderttausenden Menschen mitverantwortlich wären, sagt Reuter. "Dieses Land kann mit seiner Landwirtschaft, so wie sie im Moment läuft, niemals 43 Millionen Menschen ernähren."

Das Sinnvollste sei aus seiner Sicht, lokale Taliban zu finden, die westliche Interessen teilen - wie etwa die Teilhabe von Mädchen und Frauen oder die Kooperation mit anderen Staaten. Diese Menschen müssten regional unterstützt und gestärkt werden, findet Reuter. So ließe sich möglicherweise - Distrikt für Distrikt - innerhalb der Taliban eine langsame Veränderung herbeiführen.