100 Sekunden Leben - Viertagewocheversuchskaninchen
Immer wieder debattiert die Politik über die Möglichkeit einer Viertagewoche. Jüngst gab es nun in Berlin einen groß angelegten Feldversuch. Das haben Sie gar nicht gemerkt? Tja. Kolumnistin Doris Anselm klärt auf.
Wie bitte? Wir sollen jetzt die ganze Woche durcharbeiten?! Und die nächste auch noch?!! Von Montag bis Freitag? Da bin ich aber anderes gewöhnt. Hier in Berlin hatte jetzt einen Monat lang keine einzige Woche fünf Werktage. Zuletzt war ja sogar zweimal am Donnerstag frei. Am Donnerstag!? Meine innere Uhr ist so durcheinander: Neulich früh wachte ich auf und dachte, es wäre 2007. Und ich müsste in die Uni. Wenn ich nicht rechtzeitig im Badezimmerspiegel meine Krähenfüße entdeckt hätte, wäre ich den halben Tag lang draußen rumgeirrt und hätte mich gefragt, warum Hildesheim plötzlich so komisch aussieht.
Auf magische Weise hat in letzter Zeit auch der Supermarkt immer dann zu, wenn mein Kühlschrank leer ist. Wie ich höre, sind Andere in meinem Umfeld ähnlich verwirrt. Die einzige Kirchgängerin, die ich kenne, wollte neulich wie gewohnt zum Sonntagsgottesdienst und war mal wieder schockiert über den Schwund der Gläubigen. Selbst der Pastor hatte sich davongemacht. Dann merkte sie: es war erst Samstag.
Und wie geht’s Ihnen so? Also damit, Viertagewocheversuchskaninchen gewesen zu sein? Waren Sie genauso produktiv wie sonst? Nee? Hätte ich auch nicht gedacht, bei all dem Durcheinander mit den freien Tagen. Das Experiment war bestimmt von Arbeitgeberseite so angelegt, damit ein veritables Antiviertagewochepropagandaergebnis herauskommt. Okay. Aber wenn die Bosse dann demnächst die Rente mit 70 testen wollen, machen wir das bitte so, dass die eingesparten Jahre auf beliebige Dienstage und Donnerstage mitten im Erwerbsleben verteilt werden dürfen. Oder man kriegt mit 40 schonmal ein Jahr frei. Wer 95 wird, muss dafür nochmal zwei Monate lang auf die Baustelle. Mit Jobgarantie. Das wird lustig.