Im Fahrradkorb eines in Berlin-Kreuzberg abgestellten Fahrrades liegt Müll (Bild: picture alliance/dpa/Stefan Jaitner)
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100 Sekunden Leben - Die Freizeit-Müllwerkerin

Unsere Kolumnistin Wlada Kolosowa arbeitet jeden Morgen wider Willen als Müllwerkerin. Nur: Was würde passieren, wenn sie streikt?

Es ist Frühling und ich weiß das, auch ohne auf das Thermometer oder auf die Vegetation zu gucken. Es reicht der Blick auf mein Rad. Jede Nacht spült eine neue Überraschung in mein Fahrradkörbchen. Die Funde sind saisonal: Im Sommer Eiscremeverpackungen. Im Herbst kaputte Regenschirme. Im Winter vollgerotzte Taschentücher. Nach einigermaßen lauen Frühlingsnächten begrüßen mich leere Radlerflaschen und Kippenstummel, weil es jetzt ja endlich angenehm ist, draußen zu rauchen.

Ich wohne in Neukölln, in einer Straße, in der kein Mülleimer hängt. Jede "Zu verschenken"-Kiste wird hier in kürzester Zeit zu einer "Zu entsorgen"-Kiste. Alle Fahrradkörbe und Blumentöpfe auf dem Fenstersims, sogar die Kinderwagen haben das Potential für eine Zweitkarriere als Abfalltonne.

Und ich habe somit ein zweites Standbein als Müllwerkerin. Morgens radele ich erstmal zum orangen Mülleimer zwei Blöcke weiter entfernt und entsorge den ganzen Abfall. Schwierig wird es, wenn ich mal übers Wochenende verreise. Dann sieht mein Fahrradkorb aus wie ein Müllstellplatz nach einem Streik der BSR.

Manchmal überlege ich auch, den Müllabfuhrdienst zu verweigern und zu gucken, was passiert. Wahrscheinlich ist es aber keine gute Idee. Neulich habe ich über den Broken-Windows-Effekt gelesen. Diese sozialwissenschaftliche Theorie besagt, dass sichtbare Anzeichen von Unordnung nur zu weiterer Verwahrlosung führen. Ein Kaffeebecher im Fahrradkorb verleitet schnell dazu, noch eine leere Gummibärchenpackung dazu zu tun. Zwei Müllstücke in einem Behälter verwandeln ihn in einen fast schon offiziellen Mülleimer. Stattdessen stülpe ich vielleicht einfach eine Mülltüte über meinem Fahrradkorb. Dann muss ich wenigstens nicht Kaugummis und Kefirdeckel mit der bloßen Hand entsorgen.

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100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.