100 Sekunden Leben - Nicht einfach nur ein Geschirrtuch
Unser Kolumnist Thomas Hollmann pflegt einen pragmatischen Umgang mit Alltagsgegenständen. Nur von einem kann er sich nicht trennen.
Ich habe, wie vermutlich die meisten Menschen, ein eher praktisches Verhältnis zu Geschirrtüchern. Ich trockne damit die Bratpfanne ab, wienere die Spüle blank und schlage vorbeiirrende Motten tot. Und ist das Küchentuch durch und abgewetzt, findet es im Fahrradkeller als ölsaugender Putzlappen seine finale Verwendung.
Bei diesem einen Küchentuch aber ist es anders. Da weigere ich mich, es auszurangieren, obschon es schon mehrere Löcher hat. Das Geschirrtuch gehörte meiner Mutter. Was jetzt noch kein Grund wäre, rührselig zu werden. Hatte meine Mutter doch etliche Küchentücher, von denen ich immer mal eines stibitzt und mit nach Berlin genommen habe. Dieses Küchentuch aber war das letzte, das ich mitnahm.
Meine Mutter war zuvor gestorben. Und der rotweiß-karierte Stoff sollte eine Erinnerung an sie und die gemeinsame Zeit in der Küche sein. War ich doch gerne beim Kochen und Backen dabei, weil da immer etwas für mich abfiel. Und für den Kuchenteig und die Bratenstücke musste ich halt abtrocknen. Ich fand das einen fairen Deal.
Ich könnte das Erinnerungstuch weglegen, vielleicht in den Schreibtisch, und es gelegentlich mal herausholen. Aber was sollte ich dann damit machen? Es angucken? Das fände ich irgendwie übertrieben. Und meine Mutter bestimmt auch. War sie doch ebenfalls von praktischer Natur und eine ausgezeichnete Mottenjägerin dazu. Und bestimmte Familientraditionen sollte man fortsetzen, meine ich. Und ich bin optimistisch, dass mir dies gelingen wird, auch mit einem löcherigen Geschirrtuch.