100 Sekunden Leben - Spiegelkabinettt des Horrors
Unser Kolumnist Thomas Hollmann hat im Aufzug neulich eine Entdeckung gemacht, von der er lieber nie erfahren hätte. Nun fragt er sich: Wie viel Wahrheit verträgt der Mensch?
Es gibt Momente im Leben, die verändern alles. Ich habe kürzlich einen solchen Moment erlebt. Dabei dachte ich zuerst: Das ist ja lustig, dass man sich von allen Seiten gleichzeitig sieht. War der Aufzug, der mich in den sechsten Stock eines Hotels bringen sollte, doch verspiegelt. Bis zum Boden gingen die reflektierenden Glasflächen, in denen ich mich von vorne, von der Seite, vor allem aber auch von hinten erblickte. Und das war ein Schock!
Hatte ich mich doch bestimmt 20 Jahre nicht mehr rückwärtig betrachtet. So lang war ich bei keinem Friseur mehr gewesen, der einem nach getaner Arbeit einen Spiegel in den Nacken hält. Macht bei mir niemand. Ich schneide mir die Haare selbst. Mit einer Schermaschine. Die stelle ich auf sechs Millimeter ein und fahre so lange rüber über die Rübe, bis nichts mehr raspelt. Das ist praktisch. Kann man das doch auch mit geschlossenen Augen tun und muss dafür nicht aus dem Haus.
Jedenfalls hatte ich keine Ahnung, wie es hintenrum um mich bestellt ist. Und besser, ich wäre noch immer ahnungslos. Fehlen auf meinem Hinterkopf doch Haare. Und zwar nicht wenige. Die unbewachsene Stelle, die seltsam glänzte, als sei sie mit Bohnerwachs behandelt worden, hatte den Durchmesser eines dieser großen Hafertaler, die ich so gerne esse. Aber jetzt nicht mehr. Ich werde nie wieder Hafertaler essen. Oder ähnlich Rundes, das mich daran erinnern könnte, dass ich eine, nein, ich werde dieses Wort nicht aussprechen, das mit GLAT beginnt und mit ZE endet. Niemals.
Bling. Der sechste Stock war erreicht. Die Tür öffnete sich. Ich verließ das unheilvolle Spiegelkabinett und stand da - und vor der Frage: Wie viel Wahrheit verträgt ein Mensch? Und wie viele Stufen sind es runter bis zum Erdgeschoss, wo es nachher das Abendessen geben würde? 96.