Unterlagen stapeln sich am Bueroarbeitsplatz
IMAGO / CHROMORANGE
Bild: IMAGO / CHROMORANGE Download (mp3, 2 MB)

100 Sekunden Leben - Rückwärts durch den Aufgaben-Dschungel

Schnell mal eben eine Kleinigkeit erledigen – das sagt sich so leicht. Aber was, wenn man dem Ziel dabei nicht näherkommt, sondern sich immer weiter davon entfernt? Bei dem Versuch, Ordnung ins eigene Leben zu bringen, macht Kolumnistin Doris Anselm zuweilen alles nur noch schlimmer.

Die meisten Menschen brauchen, um ins Chaos zu stürzen, den Kontakt mit Behörden. Ich dagegen schaffe diesen Absturz fast allein; das Amt ist für mich nur das ferne Sternbild, an dem ich mich auf meiner Reise orientiere. Also desorientiere.

Klassischer Ablauf, grad neulich wieder so geschehen: Ich muss einem Amt etwas mitteilen. Dafür muss ich auf den letzten Brief bezugnehmen, den das Amt mir geschickt hat. Ich suche den Brief und stelle fest, dass ich, um ihn zu finden, erst den Stapel Unterlagen auf dem Schreibtisch abarbeiten muss. Ich brauche die Papiere nur in den jeweils richtigen Ordner zu heften, und schon wird sich das Dickicht lichten. Beim Öffnen der Ordner merke ich, dass nichts mehr reinpasst, vor allem bei den Rechnungen und Honorarbelegen. Die muss man ja zehn Jahre lang aufbewahren. Ich hätte schon längst eine Ruhestätte für sie finden müssen.

Also öffne ich alle Schränke und suche nach einem passenden Karton. Erstaunlich, wie viele Kartons ich besitze! Leider nicht den, der mir vorschwebt, in den passt nämlich perfekt ein dicker Stapel Din-A-4-Blätter. Das ist so eine Schokoriegel-Box aus dem Supermarkt. Also mach ich mich schnell auf den Weg. Ach, wenn ich sowieso schon gehe, kann ich auch gleich richtig einkaufen.

Als ich in der Kassenschlange stehe, ruft mein Freund an. "Was machst Du grad?" – "Ich räume meinen Schreibtisch auf", sage ich. "Verehrte Kunden, wir öffnen Kasse zwei", sagt die Supermarktstimme sehr laut. "Aha", sagt mein Freund, denn in der Liebe ist Vertrauen eine Entscheidung. Und er weiß halt auch: Hätte ich die Absicht, ihn zu betrügen, würde das vermutlich daran scheitern, dass der rote Lippenstift eingetrocknet ist, weshalb ich erst noch schnell mein Kosmetiktäschchen – naja, Sie verstehen schon.

Auch auf rbb24inforadio.de

100 Sekunden Leben
rbb

100 Sekunden Leben

Doris Anselm, Thomas Hollmann, Wlada Kolosowa, Sebastian Schiller, Hendrik Schröder und Ebru Taşdemir betrachten mit einem schrägen Seitenblick Phänomene aus ihrem analogen und virtuellen Leben.