Konzertbesucher filmen während eines Konzertes mit ihren Handys
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100 Sekunden Leben - Nehmt die Handys runter!

Unseren Kolumnisten Hendrik Schröder kennen Sie auch als Konzertberichterstatter bei uns aus dem Programm. Normalerweise liebt er Konzerte jeder Art, aber eine Sache macht ihm mal wieder zu schaffen.

In letzter Zeit war ich wieder ziemlich viel auf Konzerten. Mehrere pro Woche, kleine, mittelgroße, riesige. Privat, beruflich. Und bei allen überall passiert am Anfang dasselbe und ich möchte jeden einzelnen meiner Peiniger anschreien: Hört auf! Hört endlich auf damit. Ihr macht alles kaputt.

Was ich meine? Stellen Sie sich vor, sie haben für sagen wir stattliche 89 Euro ein Konzertticket ihrer Lieblingsband gekauft oder sich schenken lassen, sie fahren Stunden vor Beginn los, stehen ewig in der Schlange, vor dem Einlass, vorm Bierstand, vor der Toilette, sie bahnen sich einen Weg durch die Menge kämpfen um einen guten Platz vorne, stehen sich dort die Beine in den Bauch, bis es endlich losgeht. Sie nehmen all das auf sich. Dann geht das Saallicht aus, die Spannung in der Halle kann man fast anfassen, ein kollektives Juchzen bricht los.

Und was machen Sie? Sie halten sich ihr Mobiltelefon über den Kopf oder vors Gesicht, um diesen einmaligen Moment, wenn die ersten Takte von der Bühne brechen und die Band endlich im Scheinwerferlicht auftaucht, über einen winzigen Bildschirm zu verfolgen. So wie hunderte oder tausende andere, neben ihnen vor ihnen, hinter ihnen. Manchmal sind es so viele Displays, die dann, logisch, alle dasselbe Bild zeigen, dass es, betrachtet von oben, choreographiert aussieht wie ein Parteitag in Nordkorea.

Warum? Warum? Ich werde das in meinem Leben nicht mehr verstehen. Von jeder Band nennenswerter Bekanntheit gibt es Milliarden selbstgedrehte oder professionelle Videos im Netz, die man sich anschauen kann. Warum beraubt man sich selbst der so nur bei einem Live-Konzert erlebbaren Unmittelbarkeit des ekstatischen Moments, indem man sich darauf konzentriert, ein wackliges Handyvideo zu drehen? Das löscht man irgendwann aus dem Speicher, das ist schon bald egal, das wird niemals einfangen können, was in den Sekunden wirklich los war. An Emotion, Schweiß, Tränen, Euphorie.

Wenn Sie unbedingt eine Erinnerung wollen, dann filmen sie meinetwegen irgendwann mittendrin ein paar Sequenzen. Aber doch nicht am Anfang, diesem einen kurzen einmaligen Moment. Und nicht minutenlang. Schlimm ist das, ganz schlimm. Hören Sie auf damit. Sie nehmen sich selbst den Augenblick, sie nehmen sich die Möglichkeit einer unvergesslichen wahnsinnig unmittelbaren Erfahrung, sie nehmen den Künstlern und Künstlerinnen die Magie und denen hinter Ihnen die Sicht. Hören Sie auf damit.