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100 Sekunden Leben - Goldene Uhr für Harald Martenstein?

Seit Tagen debattiert die Medienwelt über den Weggang des Kolumnisten Harald Martenstein vom "Tagesspiegel". Der Streit dreht sich um Fragen von Meinungsfreiheit und Antisemitismus. Doris Anselm findet aber, ein wichtiges Thema wurde vergessen: Das Betriebsjubiläum eines älteren Herren.

"Mensch Harald, lass mal gut sein", möchte ich am liebsten sagen. Der Mann verdient seit Jahrzehnten Geld mit seiner Meinung, unter anderem wöchentlich auf der Titelseite des Tagesspiegels. Seine Texte sind mal provokant, mal voller Ressentiments, ich finde sie meistens vorgestrig.

Jetzt geht Martenstein, so what? Das ist der Lauf der Welt. Platz für ein paar neue Stimmen. Und Harald geht ja noch nicht mal in Rente. Er schreibt weiterhin für mehrere andere große Medien; der vom Tagesspiegel gelöschte Text steht auf seiner Website. Trotzdem tun jetzt Leute von rechts bis links so, als wäre Haralds Hutnahme entweder der Tod der Meinungsfreiheit oder die größte Erlösung seit der Abwahl Donald Trumps.

Was war passiert? Martenstein hatte in seiner Kolumne behauptet, wenn Leute sich einen Judenstern anheften, um gegen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren, sei das zwar "schwer erträglich", aber "sicher nicht antisemitisch", denn sie würden sich ja mit verfolgten Juden identifizieren. Sehe ich anders, die Zeitung auch, die aber dummerweise erst, nachdem der Text schon gedruckt und online war. Dort wurde er dann nachträglich gelöscht, angeblich nach intensiven Gesprächen, auch mit Wissenschaftlern. Leider wurden die Argumente daraus der Leserschaft vorenthalten.

Als Martenstein aus Protest hinschmiss, stand in einem Statement der Chefredaktion nur was sehr Allgemeines davon, man wolle zwar ein breites Meinungsspektrum abbilden, aber … und so weiter. An dem "aber" stör ich mich nicht mal, ich stör mich daran, dass die Formel "jeden Sonntag Titelseite Martenstein" irgendwas mit breitem Meinungsspektrum zu tun haben soll. Dass der Abschied von diesem Polemiker nicht als Betriebsjubiläum mit goldener Uhr über die Bühne geht, sondern als fast inszeniert hässlicher Streit, das stört oder wundert mich hingegen überhaupt nicht.