Dietmar Richter(Bild:Inforadio/Bergemann)
Bild: Inforadio Anneliese Bergemann

17. Juni 1953 - An diesem Tag ist nichts wie gewohnt

Dietmar Richter war 18 Jahre alt am 17. Juni 1953. Er lebte in Hennigsdorf, arbeitete nach seiner Lehre als Werkzeugfräser im Lokomotiv-Werk weiter dort. Anneliese Bergemann hat er seine Geschichte des 17. Juni erzählt.

Der Tag beginnt für Dietmar Richter wie gewohnt - 7 Uhr Schichtbeginn. Doch an diesem Tag ist nichts wie gewohnt. Die Arbeiter stehen in Grüppchen vor den Werkshallen und diskutieren. Schließlich heißt es: Wir streiken! Die Belegschaft des Lokomotivbau-Elektrotechnischen Werks - kurz: LEW - setzt sich in Bewegung.

Deitmar Richter: "Ungefähr im Zentrum von Hennigsdorf, an der Kirche, kamen die Arbeiter des Stahlwerks, eines weiteren Großbetriebes in Hennigsdorf, kamen uns entgegen. Und das war ein riesiger Jubel der Vereinigung. Die hatten zum Teil ihre Lederschürzen an und Holzpantinen, Holzschuhe, die sie beim Stahlabstich anhaben mussten, nicht."

Mehrere tausend Hennigsdorfer Arbeiter laufen gemeinsam Richtung Berlin. Die zwei Volks-Polizisten an der Grenze zu West-Berlin versuchen erst gar nicht, die Menschenmenge aufzuhalten. Der Weg führt durch Tegel:

Dietmar Richter: "Das werde ich nie vergessen: Die Kaufleute, die kamen aus ihren Läden raus, die Bäcker, die Fleischer, die kamen aus ihren Läden raus und haben die Leute verköstigt. Schuhläden haben die Holzpantinen denen ausgezogen und Schuhe verpasst …"

"Am 18. Juni war meine 'Karriere' als DDR-Bürger beendet"

Nach gut 20 Kilometern Fußmarsch kommt der Demonstrationszug in Ost-Berlin an.

O-Ton RIAS-Reportage: "Es ist 15 Minuten nach 11. Die Spitze des Zuges hat die Sektorengrenze an der Chausseestraße erreicht. Die ganze Straßenbreite mit beiden Bürgersteigen ist ausgefüllt mit dem Demonstrationszug …"

Unter den Linden sieht Dietmar Richter die ersten sowjetischen Panzer und LKW. Schließlich stehen die Demonstranten vor dem Haus der Ministerien in der Leipziger Straße. Auch hier: sowjetische Panzer und Soldaten.

Dietmar Richter: "Ich habe nicht gesehen, dass sie auf Leute geschossen haben. Aber ich habe mehrfach gesehen, dass wenn diese Angriffe mit den Steinen … Die Leute haben ja die Pflastersteine rausgerissen und haben auf die Panzer mit Steinen geworfen. Und wenn es zu bunt wurde, dann haben die wieder so ne Salve in diese Giebel reingegeben. Die Menge, die stand da, bis 1 Meter 80 die größten, und dann wurde geschossen vom Giebel in 20 Meter Höhe wurde immer tiefer gehalten, immer tiefer gehalten, bis dann keiner mehr stand, bis alle flach lagen, in Deckung gegangen sind."

Für Dietmar Richter ist klar: " dass das Ding völlig außerhalb der Kontrolle von deutschen Behörden – Polizei oder sonst wem – ist, sondern es waren eben Russen da. Mit aller dazugehörigen Macht -Panzer …"

Die Hennigsdorfer machen sich auf den Heimweg, müde und enttäuscht. Auf West-Berliner Seite stehen BVG-Busse bereit, fahren die Streikenden bis zur Grenze in Heiligensee. Dietmar Richter kehrt am nächsten Tag nicht wieder in die Fabrik zurück - er nimmt die S-Bahn nach West-Berlin:

"Am 18. Juni war meine 'Karriere' als DDR-Bürger beendet."

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17. Juni 1953: Von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzte Panzer zur Niederschlagung der Unruhen in der Schützenstrasse - Quelle: Bundesarchiv

60 Jahre nach dem Aufstand - 17. Juni: Die Inforadio-Zeitzeugen erzählen

60 Jahre nach den Ereignissen erinnert Inforadio in Zusammenarbeit mit der rbb Abendschau und Brandenburg Aktuell an den 17. Juni 1953. Wir haben die Hörer und Zuschauer aufgerufen, uns ihre Geschichten und Erinnerungen zu erzählen. Zu hören sind diese vom 10.-15. Juni im Inforadio und zu sehen abends in der Abendschau und bei Brandenburg Aktuell um 19.30 Uhr im rbb Fernsehen.