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Weihnachten - das Fest der Familie schlechthin - kann auch ganz schön schiefgehen mit und wegen der Familie. Aber was, wenn gar keine Familie da ist? Ohne dass man was davon merkt? Jens Lehmann öffnet das 16. Adventstürchen.
Hunderttausende hetzen zu Mama, Papa, Oma, Opa, Onkel und Tante, um ein bisschen Familienidylle zu erhaschen. Doch ist an dieser Idylle wirklich alles echt?! Das geht doch schon beim Weihnachtsmann los. Früher hat sich noch Onkel Dietmar eine Zipfelmütze aufgesetzt und einen Bart angeklebt - dann wurde der Weihnachtsmann bei den Heinzelmännchen bestellt. Heute gibt's den wahrscheinlich schon als App. Harald Martenstein hat in einer seiner "ungewöhnlichen Weihnachtsgeschichten" eine Agentur ersonnen, die Leih-Familien zur Verfügung stellt.
"Soundso alt, Beruf, Aussehen, drei Kinder, liebe Oma und einen Onkel, der lustig ist und Klavier spielen kann. Kein Problem! Das haben wir im Computer. Die Kinder sind natürlich am schwersten zu kriegen. Aber wir haben eine sehr gute Partneragentur in der Dominikanischen Republik. Wenn ihnen das zu glatt ist, schicken wir ihnen einen streitsüchtigen Onkel, der rechtsradikale Ansichten hat und starken Körpergeruch."
Einsamkeit treibt die seltsamsten Blüten. Bei der Berlinale lief vor vier Jahren ein kluger, fast zärtlicher Dokumentarfilm - "Traumfrau" vom jungen Schweizer Oliver Schwarz - über einen Mann, der mit einer Gummipuppe als echter Lebensgefährtin in seiner Wohnung lebt.
Der Protagonist, Dirk, füllt seine Jenny noch selbst mit Leben. Doch es geht auch anders: Jedes Jahr werden neue Roboter-Modelle vorgestellt, eins menschlicher als das andere. Sie heißen Pepper oder Otanoroid, ihre Haut besteht aus Silikon, mit Poren und allem. Manche werden schon in Seniorenheimen eingesetzt, andere an der Rezeption von Hotels. Warum also nicht als Familienmitglieder? Aber wozu in die Zukunft blicken, wenn man die ultimative Weihnachts-Illusion schon bei Heinrich Böll findet. In seiner ätzenden Kurzgeschichte "Nicht nur zur Weihnachtszeit", die er 1952 bei der Gruppe 47 vorstellte - und die kurz darauf als Hörspiel mit Heinz Rühmann als Erzähler ausgestrahlt wurde: Tante Milla will sich nach Weihnachten nicht von ihrem Christbaum trennen und schreit markerschütternd. Die Ärzte sind ratlos, da ersinnt Onkel Franz die "Tannenbaumtherapie" - und für Milla ist ab sofort jeder Abend Heiligabend. Während sie ihr Glück findet, zeigt die ach so heile Familie zusehends Auflösungserscheinungen: Fremdgehen, Tobsuchtsanfälle, Konversion vom Katholizismus zum Kommunismus, Auswandern nach Afrika. Irgendwann besteht die Familie nur noch aus Schauspielern oder - aha! Wachspuppen - und die Weihnachtsengel flüstern leise "Friede, Friede"...
Ein Pfarrer warf dem Literaturnobelpreisträger übrigens "Verunglimpfung des deutschen Gemüts vor". Aber mal ehrlich: Ist Weihnachten je anders gewesen?