Schriftsteller Ingo Schulze (Bild: rbb/Freiberg)
Bild: Klaus Dieter Freiberg

10 Ideen - Das braucht Deutschland - Idee 8: Schriftsteller Ingo Schulze

Ingo Schulze ist Schriftsteller aus Dresden. Er lebt in Berlin. Seine Bücher sind preisgekrönt und in viele Sprachen übersetzt, zum Beispiel die "Simple Stories" oder "Neues Leben", beides Geschichten über die deutsch-deutsche Wendezeit und die Jahre danach. Zuletzt war Ingo Schulze aber etwas weniger in der Welt der Literatur unterwegs und dafür mehr in der Gesellschaftskritik. Er hat einen Essay über die Folgen der Finanzkrise geschrieben, er ist aus Neugier bei Pegida mitmarschiert und er hat sich unter anderem auch mit dem Krieg in der Ukraine auseinandergesetzt. Ingo Schulze, Autor und politisch denkender Kopf, im Interview für die Reihe "10 Ideen - Das braucht Deutschland."

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Zitat

Ich denke, dass wir in den letzten Jahren alle miteinander versagt haben – die Intellektuellen, die diese soziale Polarisierung mehr oder weniger hingenommen haben, aber auch Gewerkschaften und Kirchen. Auch die Gewerkschaften müssen sehr viel politischer werden."

Sylvia Tiegs: Herzlich Willkommen im Inforadio, Ingo Schulze.

Ingo Schulze: Danke, guten Tag.

Sylvia Tiegs:  Herr Schulze, wenn Sie jetzt einen Roman über Deutschland im Jahr 2017 schreiben würden, was müsste aus Ihrer Sicht da rein?

Ingo Schulze: In der Literatur geht es ja letztlich nicht darum, was man beschreibt, sondern wie man es beschreibt. Man kann große Literatur ja nicht thematisch-inhaltlich festlegen,  sondern es kommt auf den Blick darauf an, wie die Welt gesehen wird. Und da wäre von mir schon ein Anspruch zu sagen: Gute Literatur müsste die Doppelbödigkeit unseres Alltags sichtbar machen, also das, wo wir in unserer Welt die ganze Welt finden.

Sylvia Tiegs: Was ist im Moment aus Ihrer Sicht doppelbödig in Deutschland?

Ingo Schulze:  Nun, man kann das in so einen einfachen Satz sagen und sagen: "Versuchen Sie mal eine Woche einkaufen zu gehen, ohne eine Schweinerei zu begehen." Im Sommer hat das Auswärtige Amt einen Entwurf an die anderen Ministerien gegeben und hat gesagt, bis zum Jahre 2020 soll die Hälfte aller großen Betriebe über 500 Beschäftigte nach menschlichen Normativen ihre Handelsbeziehungen gestalten. Das heißt also: Weit mehr als die Hälfte unserer großen Betriebe haben sozusagen menschliche Defizite in ihrem Handeln, und das meine ich mit so einer Doppelbödigkeit. Also wenn wir immer wüssten, wie unsere Schuhe hergestellt sind, wie unsere Kleidung hergestellt ist, die Nahrungsmittel, ganz zu schweigen von unseren Mobiltelefonen und Computern, das würden wir, glaube ich, in aller Regel verurteilen. Jetzt verdrängen wir das, man hat auch als Einzelner nur beschränkt Möglichkeiten. Man hat Möglichkeiten, aber das sind natürlich Dinge, die auf gesellschaftlicher Ebene, die politisch gelöst werden müssen. Gerade eben durch andere Handelsbeziehungen, Abbau von Subventionen, also da gäbe es einfach ganz viele Dinge zu tun. Sonst muss man sich immer fragen: Wieso kommen diese ganzen Flüchtlinge erst jetzt? Das ist eine Frage, die wird uns begleiten, solange diese Welt derartig ungerecht eingerichtet ist.

Sylvia Tiegs:  Der neue SPD-Kanzlerkandidat möchte mit dem Thema Soziale Gerechtigkeit in diesen Wahlkampf gehen. Und ich finde, da tut sich der nächste Widerspruch auf. Einerseits sind wir ein Land, wo es den Leuten besser geht als in vergleichbaren europäischen Ländern, andererseits gibt es bei uns nicht wenige Gruppen, die sagen: So geht es nicht weiter. Die Renten sind zu klein, der Mindestlohn wird nicht überall gezahlt, die Steuerlast ist zu hoch, Manager verdienen zu viel, und so weiter und so weiter. Also es geht ungerecht bei uns zu. Nehmen Sie das auch wahr als einen deutschen Widerspruch?

Ingo Schulze: Das ist ein Widerspruch, mit dem wir leben und der sich in den letzten 10, 15 Jahren verschärft hat. Man kann das schon auch an der Agenda 2010 festmachen. Da sind Dinge passiert, also gerade vom politischen Spektrum rot-grün, wo man dachte, da wird das nicht so herkommen. Das hat unsere Gesellschaft sehr polarisiert. Und was innerhalb des Landes passiert, passiert eben auch auf europäischer Ebene, auf der Ebene der ganzen Welt. Also wenn es uns nicht mal gelingt, mit Griechenland sozusagen da ein vernünftiges Umgehen zu praktizieren, wie soll es dann woanders sein? Man muss dann, glaube ich, schon sehr konkret sprechen. Natürlich ist nicht Deutschland oder Europa immer allein verantwortlich für das ganze Schlamassel in der Welt, aber natürlich gibt es da eine große Aktie mit dran, eine große Mitverantwortung. Und was Deutschland gerade in Bezug auf Griechenland betrifft: Das ist so beispielhaft für sehr vieles: dass man diese Schulden, die Griechenland hatte, die eigentlich Privatschuldner waren, dass man die sozusagen auf die Schultern der Steuerzahler, dass man diese Schulden verstaatlicht hat. Und nun stecken wir alle mit drin. Und das ist so ein Beispiel von sehr vielen, wo eine politische Praxis geübt wird, die schon seit vielen, vielen Jahren irreführend ist, falsch ist.

Sylvia Tiegs:  Was brauchen wir denn in diesem Jahr 2017 bei sozialer Gerechtigkeit? Was schießt Ihnen da durch den Kopf, wenn Sie sich wünschen könnten: Das brauchen wir. Das ist die Idee. Macht es doch mal!

Ingo Schulze: Es ist immer die Rede von den Leistungsträgern, da müsste man mal definieren, wer sind denn diese Leistungsträger? Und wenn ich mir anschaue, was eine Kindergärtnerin, ein Kindergärtner verdient, was Pflegekräfte bekommen, das könnte man jetzt durchbuchstabieren, da gibt es meiner Ansicht nach eine riesengroße Ungerechtigkeit. Und nun kann ich jetzt nicht immer im Einzelnen sagen: das müsste wirklich dann ausgehandelt werden. Nur der Grundwiderspruch ist meiner Ansicht nach, dass wir ja eine enorme Entwicklung an Technologie, an Wissenschaft haben. Und wie verträgt sich das eigentlich mit der Arbeitswelt? Wem kommt eigentlich dieser ungeheure Reichtum, den wir eigentlich durch die Arbeit unserer Vorfahren und Erfinder und Wissenschaftler angehäuft haben, wem kommt das zu Gute? Und da denke ich, gibt es schon einen Widerspruch zwischen dem Privateigentum an Produktionsmitteln und diesem enormen Fortschritt, der eigentlich immer nur wenigen zu Gute kommt.

Sylvia Tiegs:  Es gibt ja noch andere Widersprüche in diesem Land, beispielsweise - und Sie sind ja da mitgelaufen - der Widerspruch zwischen den Pegida-Anhängern, vielleicht auch AfD: "Unser Land wird verraten und es läuft alles falsch" - und den anderen, die finden: "Im Gegenteil. Wir müssen weltoffen sein, wir müssen Flüchtlinge aufnehmen, das ist alles schon ganz richtig so". Da hat sich schon ein riesiger Graben aufgetan, oder?

Ingo Schulze: Naja, ich denke, dass das auch in gewisser Weise fehlgeleitete Frontlinien sind. An der Flüchtlingsproblematik macht sich etwas fest, was natürlich noch ganz andere Ursachen hat. Die sind zum einen ökonomischer Natur, aber meiner Ansicht nach eben nicht nur ökonomischer Natur. Wenn eine Gesellschaft, sagen wir mal, seit den 90ern spätestens immer nur davon spricht, wie Wachstum geschaffen werden kann, wie etwas noch effizienter wird, dann geht einer Gesellschaft ihr eigener Sinn verloren. Und nun schließt man sich zusammen, da in Dresden zum Beispiel, und marschiert jeden Montag und hat plötzlich wieder so ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Man tritt auf die Schwächsten, dort wo wir eigentlich auch als Gesellschaft, als Europäer eine Verantwortung gegenüber der Welt haben, aus den Folgen des Kolonialismus', aus den Folgen des Kalten Krieges, Neokolonialismus'. Und bekommt dort eine Identität, die man sich nicht anders offenbar erschaffen kann. Das sind ganz viele Faktoren, die da zusammenkommen, einerseits diese ökonomisch-soziale Polarisierung, wo man sagt, das sind dann Konkurrenten, die kriegen jetzt was, was wir nicht bekommen - und wir können nicht teilen. Das ist ja tatsächlich so, dass das tatsächlich für viele wie Hohn klingen muss, wenn sie hören, Deutschland ist ein reiches Land. Wenn ich gerade selbst so über die Runden komme, dann habe ich keine Lust zu teilen. Also solche Dinge spielen eine Rolle, aber eben auch so ein Sinndefizit, was versucht wird, da auf eine meiner Ansicht nach ganz falsche Art und Weise zu beantworten.

Kommentar

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Antwort auf [Michael Ronge] vom 08.03.2017 um 15:55
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3 Kommentare

  1. 3.

    Kleine Ergänzung: die Abwertung hält deshalb so lange vor, weil sie jeder, der zur "kundenfreundlichen" Arbeitsagentur muss, dort diese Abwertung im Kleinen regelmäßig neu durchlebt. Problematisch ist also nicht die einzelne Aussage von Gerhard Schröder, sondern das System der Abwertung.
    Ähnliche Mechanismen erlebt man übrigens auch, wenn man sich als Mittelständler mit Politikern unterhält. Es ist also kein Problem der Abgehängten, sondern der gesamten Gesellschaft.

  2. 2.

    Aus meiner Sicht liegt das Problem nicht so sehr im (fehlenden) Engagement der einzelnen Gruppen, sondern in der mangelden Wertschätzung in unserer Gesellschaft. Wenn ein Bundeskanzler Sozialhilfeempfänger als faule Sofahocker und Fernsehjunkies abwertet, dann macht das etwas mit den so Behandelten. Sie werden nämlich wütend. Von da führt der Weg zur Abwertung und schließlich zum Hass, wie er an vielen Orten gut zu beobachten ist.

  3. 1.

    So eiert man rum, wenn man die teuren Krisen (Energie, EU, Euro, Flüchtlinge, Pflege usw.), unter denen das Land ächzt, lieber wegdrückt. Herr Schulze sinniert lieber darüber, ob man nicht einen anderen Kurs einschlagen sollte und bemerkt nicht, daß der Kahn am absaufen ist. Logisch wäre: Zuerst den Kahn flott machen, Ballast abwerfen, ideologische Fesseln lösen, nationale Manövrierfähigkeit zurückgewinnen. Sozial ist, was Arbeit schafft - Human ist, was den inneren und äußeren Frieden sichert.

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10 Ideen - Das braucht Deutschland (Bild: rbb/Freiberg/Grischek)
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10 Ideen - Das braucht Deutschland

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