Ein alter Stadtplan von Berlin-West hinter einer Scheibe mit Spiegelung mit roter Linie an der Mauer (Bild: rbb/ Doris Anselm)
rbb/ Doris Anselm
Bild: rbb/ Doris Anselm Download (mp3, 2 MB)

100 Sekunden Leben - Stadtplan eines alten Wessis

Kaum ist der Tag der Deutschen Einheit vorbei, da stellt Kolumnistin Doris Anselm schon wieder gewagte Behauptungen auf: Wilmersdorf ist das Zentrum Berlins, und Friedrichshain gibt’s gar nicht. Wer das anders sieht, der ist jetzt eingeladen auf eine kleine Reise durch Zeit und Raum.

Es ist unangenehm, das zu sagen, aber ich kümmere mich liebevoll um den Erhalt der Berliner Mauer. Jedes Jahr baue ich sie wieder auf. In meiner Küche. Denn dort hängt ein alter Berlin-Stadtplan, den mein Vater (Wessi) in den 70ern von einer Dienstreise mitgebracht hat.

Auf diesem Plan ist die Mauer eine blutrote Linie. Theoretisch. Praktisch, also in meiner sonnigen Südseitenküche, verblasst die Mauer derart rapide, dass ich jährlich Filzstift ansetzen muss. Dabei frage ich mich zwar jedes Mal, ob es zynisch ist, die Mauer nachzuziehen. Doch ihre willkürlich-irrsinnige Zickzacklinie ist einfach das Interessanteste an der alten Karte. Dicht gefolgt allerdings von der lustigen grafischen Behauptung, Wilmersdorf sei das Zentrum Berlins (es sitzt genau in der Mitte des Stadtplans). Friedrichshain dagegen lag für Wessis der 70er offenbar so fern, dass es fast komplett unter der Legende verschwindet.

Die Stadtautobahn existiert zwar schon, geht aber nur bis Südkreuz, das nicht Südkreuz heißt, sondern Papestraße. All diese abgelaufenen Fakten nehme ich vorsichtig aus dem Bilderrahmen. Dann setze ich den Rotstift an, ganz oben in Schönholz, und fahre so ungelenk durch die Stadt, als wollte ich sie zerstückeln. Genau, das feuchte Rot erinnert mich an das Wandgemälde bei der Mauer-Gedenkstätte Bernauer Straße, mit dem Messer, das durchs Fleisch geht.

Abgesehen vom Gruselfaktor gibt es auch noch einen mysteriös-symbolischen: Es ist nämlich so, dass die anderen Farben auf dem Stadtplan seltsamerweise fast gar nicht verblassen. Nur das Rot, das für Mauer und "Sektorengrenzen" steht. Als hätten die Mitarbeiter in der Druckerei damals insgeheim ein politisches Zeichen gesetzt. Dafür verzeih’ ich ihnen auch den Friedrichshain-Verzicht.