Menschen grillen an einem Lagerfeuer
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100 Sekunden Leben - In Gedanken bei Oleg

Unser Kolumnist Hendrik Schröder denkt derzeit oft an einen alten Kumpel aus der Ukraine, zu dem der Kontakt leider vor Jahren abgerissen ist: Oleg. Mit dem er gelebt und gefeiert hat - und von dem er nicht weiß, wie es ihm heute geht.

Seitdem die Kämpfe in der Ukraine erneut so heftig geworden sind und jeden Tag Berichte von vielen Toten auf beiden Seiten zu lesen sind, muss ich wieder so oft an Oleg denken. Oleg kommt aus einem Vorort von Kiev und war in Berlin vor langer Zeit für einige Jahre mein Mitbewohner. Ich wohnte damals in einem Hausprojekt mit über 20 Menschen, in dem wir extra ein Zimmerchen hatten für Leute wie Oleg, die ihre Heimat aus welchen Gründen auch immer verlassen mussten und nicht wussten, wo sie unterkommen sollten.

Oleg sah mit seinem Boxerschnitt, der massigen, großen Statur und dem schneidenden Blick echt gefährlich aus, war aber der liebste und lustigste Mensch der Welt. Er hatte früh geheiratet, war jung Vater geworden und nun war er in Berlin, um Geld für die Familie ranzuschaffen, arbeitete als Allroundhandwerker bei Filmproduktionen, reparierte Fahrräder und Waschmaschinen, konnte irgendwie alles. Er lernte rasend schnell Deutsch und fühlte sich wohl in Berlin und bei uns. Er wollte bleiben.

Aber seine Frau zog nicht mit. Sie liebte das naturnahe Leben in der ukrainischen Kleinstadt vor den Toren Kiews und mochte Berlin nicht, also ging Oleg nach 2-3 Jahren in unserem Haus zurück in die Ukraine. Einmal besuchten meine Freundin und ich ihn dort für eine Woche oder so. Wir bekamen die Wohnung seiner Mutter, die derweil in ihre Datsche zog. Jeden Tag unternahmen wir etwas mit Olegs Bruder, seinem Onkel, seiner Frau, seinem Sohn, wurden quasi sofort adoptiert. Wir grillten, tanzten, schauten uns Museen in Kiew an, heizten mit Olegs altem Opel durch die Gegend, es war großartig.

Nach der Reise riss der Kontakt ab. Das Leben ging halt weiter. Ich dachte erst wieder an Oleg, als die russische Armee sich bereit machte für die Invasion. Wurde er eingezogen? Eigentlich zu alt. Aber sein Sohn, Igor. Sind sie geflohen? Geht es ihnen gut? Ich habe alle alten Bekannten aus der damaligen Zeit angeschrieben, die ich noch ausfindig machen konnte, aber niemand hatte noch Kontakt, eine Nummer, eine E-Mail-Adresse, nix. Aber eines weiß ich jetzt: Krieg ist noch mal so viel trauriger, wenn er ein Gesicht und einen Namen hat. Oleg.