100 Sekunden Leben - Karneval der kulturellen Aneignung?
Am Pfingstsonntag hat Kreuzberg getanzt. Nach dreijähriger Corona-Pause zog der Karneval der Kulturen wieder durch den Kiez. Unser Kolumnist Thomas Hollmann ist mitgezogen, hat sich allerdings gefragt, ob er sich der kulturellen Aneignung verdächtig macht.
Da ist Berlin mal wieder schön aus der Hüfte gekommen. Und ich habe sogar ein bisschen mitgewippt. Obwohl ich lieber Soul mag als Samba. Und Salsa ist auch nicht so mein Ding. Aber vom Rumstehen kriegt man schwere Beine. Also habe ich mich locker gemacht.
Zu Gucken gab es auch wieder viel. Die Leute waren ja alle verkleidet. Einige hatten sogar einen Sombrero auf. Da hätte die Seniorentanzgruppe der Arbeiterwohlfahrt Rheinau glatt mitlaufen können. Die wäre gar nicht aufgefallen. Bei der Bundesgartenschau in Mannheim dürfen die AWO-Alten keinen Sombrero tragen, wegen der kulturellen Aneignung.
Das ist das Praktische beim Karneval der Kulturen: Da gibt es echte Mexikaner und Peruaner und Bolivianer und Koreaner und Angolaner und Brasilianer. Bei denen dürfen alte weiße Frauen mittrommeln, ohne sich der ethnischen Erniedrigung schuldig zu machen. Und die nachgemachte Kultur ist schön weit weg von der eigenen.
Wobei kolumbianische Kostüme ganz ähnlich aussehen wie Dirndl, habe ich festgestellt. Und beim Schuhplatteln braucht man schließlich auch Rhythmusgefühl. Aber eine bayrische Tanzgruppe habe ich keine gesehen, obwohl es in Berlin vermutlich mehr Bayern als Bolivianer gibt.
Aber kulturell sind die Übergänge eh fließend. Da weiß man gar nicht mehr, wo fängt die eine an und wo hört die andere auf. In Bayrischzell gibt es jeden Freitag eine Dorfwanderung mit echten Lamas. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob man da so einfach seine Ziegenfelltrommel mitbringen darf.