Frau schiebt einen Kinderwagen
IMAGO / Michael Gstettenbauer
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100 Sekunden Leben - Das unsichtbare Kind

Straßentheater wird normalerweise absichtlich veranstaltet. Unsere Kolumnistin Doris Anselm aber ist auf der Straße zufällig in eine Pantomimen-Vorstellung geraten, die ganz aus Versehen zustande kam – und trotzdem zauberhaft war.

Es gibt irgendwo eine Romanszene, da sieht der Erzähler einer Frau dabei zu, wie sie Mandarinen schält – bloß ohne Mandarinen. Ihre Pantomime ist so glaubwürdig, dass dem Erzähler fast schon der Duft der Früchte in die Nase steigt. Als er seine Bewunderung ausdrückt, sagt die Frau: Ach, es ist eigentlich ganz einfach: Ich stelle mir nicht vor, dass da Mandarinen sind, sondern ich vergesse, dass da keine sind.

Diese Szene ist mir jetzt an der Bushaltestelle wieder eingefallen. Es regnete leicht. Unter dem Glasdach saß eine ältere Dame. Dann kam noch eine junge Frau mit Kinderbuggy dazu. Über dem Buggy lag ein Regenschutz, die Tropfen darauf machten die Folie fast undurchsichtig. Die beiden Frauen fingen an zu plaudern; dabei sah die ältere immer wieder lächelnd zum Kinderwagen, ab und zu schnitt sie sogar eine kleine Grimasse.

Das Gespräch vertiefte sich, und die jüngere Frau fing gedankenverloren damit an, den Wagen zu schaukeln, auf diese beruhigende Art, von der man selbst als nur zuguckende Erwachsene fast einschläft. Dann kam der Bus und riss die Frauen aus ihrer Plauderei. Die junge nahm die Regenfolie ab, um sie zu verstauen. "Da ist ja gar kein Kind drin!" rief die Seniorin überrascht. "Nein", sagte die andere ungerührt, "das hole ich jetzt erst aus der Kita ab."

Wir stiegen in den Bus. Ich war komplett beeindruckt. Schon irre, dass Vorstellungskraft ansteckend sein kann, vor allem, wenn sie auf die passende Gewohnheit trifft. Die Mutter hatte kurzzeitig vergessen, dass da kein Kind war. Die anderen Fahrgäste schienen allerdings immun gegen den Zauber, zum Glück! Das wäre sonst eine anstrengende Fahrt geworden: Acht Haltestellen lang mit dem Geschrei eines pantomimischen Kindes.