Reisende stehen an Check-In-Schaltern im Terminal 1 des Flughafens BER
picture alliance/dpa | Jörg Carstensen
Bild: picture alliance/dpa | Jörg Carstensen Download (mp3, 2 MB)

100 Sekunden Leben - Abgründe der menschlichen Zivilisation am Flughafen BER

Ein geplanter Abflug vom Flughafen BER reichte unserem Kolumnisten Hendrik Schröder, um herauszufinden, dass der Mensch doch nicht so weit entwickelt ist, wie wir vielleicht manchmal denken.

Letzte Woche wurde ich Zeuge davon, wie dünn die Decke unserer Zivilisiertheit doch sein kann. Ort des Geschehens: Der BER. Gewissenhaft war ich 2.5h vor Abflug am Check In. Erst mal Gepäck abgeben. Dann sah ich diese endlose Schlange, die sich weit bis in das Terminal hineinzog.

Ach, vor dem Security Check denke ich, die sind nur zu faul ins andere Terminal zu laufen, da ist es ja meistens leerer. Ein Blick auf die Anzeigetafel mit der Wartezeit strafte meine Überheblichkeit Lügen. 40-50 Minuten. Vor allen Stationen. Ich reihte mich also mit hunderten anderen Menschen in das sogenannte Personenleitsystem ein.

Drei der Scanner waren geöffnet. Drei. Für diese riesige Menge an Fluggästen, die sich dicht an dicht zwischen den Absperrbändern knäulte. Es ging nur zentimeterweise voran, man fühlte sich wie in einem Experiment mit versteckter Kamera, wo irgendwer gesagt hat: Komm, wir gucken mal, wie lange die das aushalten. Nicht so sehr lange.

Irgendwann ging nichts mehr, die ersten wurden panisch, murrten, meckerten. Dann drängelten sich einige massiv vor. Querfeldein. Eine Familie. Unsere kleinen Kinder können nicht mehr, riefen sie entschuldigend. Dann die nächsten: Geschäftstermin! Abflug in 20 Minuten. Die Dämme begannen zu brechen.

Immer mehr Menschen kletterten unter den Absperrungen durch, quetschten sich gen Sicherheitsscanner. Die ersten pöbelten: Ay, seid ihr bekloppt, wir warten hier auch. Schimpfworte flogen durch die Luft. Zwei kleine, bullige Männer lieferten sich ein wildes Wortgefecht, standen Stirn an Stirn. Die Stimmung war kurz vor Schlägerei.

Die Schlange bewegte sich nicht mehr, so viele drängelten sich jetzt vor, dass die regulär Wartenden gar nicht mehr abgefertigt wurden. Kein Personal vor Ort, was für Ordnung sorgte, niemand. Die von Stresshormonen vollgepumpte Meute war sich selbst überlassen.

Wenn dem Falschen hier dem Falschen gegenüber die Hand ausrutscht, dann geht es ab, dachte ich. Es passierte nicht, aber es hat nicht viel gefehlt. Es ging nur um einen Flug, aber die Leute waren bereit, alle Regeln zu brechen und mit physischem Einsatz nur für ihren eigenen Vorteil zu kämpfen. Wow. Bitte lass es nie um was wirklich Existenzielles gehen, dachte ich, dann ist Chaos. Wie fragil aller Anstand doch ist.