Parade auf der Avenue des Champs-Elysees mit Emmanuel Macron
picture alliance/dpa/AP | Christophe Ena
Bild: picture alliance/dpa/AP | Christophe Ena Download (mp3, 9 MB)

Interview - Soziologin Bourgeois: "Frankreich ist tief gespalten"

Am Freitag haben die Franzosen ihren Nationalfeiertag begangen. Nach den Unruhen der letzten Wochen waren dafür allein in Paris 10.000 Polizisten im Einsatz. Obwohl es am Ende ruhig blieb, sieht die Soziologin Isabelle Bourgeois eine tief gespaltene Gesellschaft ohne gemeinsame Werte.

Am Ende wurde es doch ein friedlicher Nationalfeiertag in Frankreich. Unter blauem Himmel verlief die Militärparade in Paris ohne Zwischenfälle. Nach den wochenlangen Unruhen, ausgelöst durch den tödlichen Schuss eines Polizisten auf einen 17-Jährigen, waren allein in Paris 10.000 Sicherheitskräfte zum Schutz der Parade im Einsatz.

Am Ende seien die protestierenden jungen Menschen auch einfach müde gewesen, glaubt die französische Soziologin und Medienwissenschaftlerin Isabelle Bourgeois. Die Proteste nach dem Tod von Nahel M. hätten kein gemeinsames Ziel gehabt. "Sie wollten nichts Besonderes, einfach nur aus Jux und Tollerei ein paar Böller knallen und auf Bullen prügeln."

Tiefe Spaltung und fehlende Werte

 

Das sei die oberflächliche Erklärung. "Tief dahinter steckt aber eine Gesellschaft, die extrem gespalten ist in vielerlei Hinsicht, die keinen Zusammenhalt mehr hat", analysiert Bourgeois.

Einerseits sei Frankreich "entchristlicht", sodass die Kirchen heute nicht mehr in der Lage seien gesamtgesellschaftliche Werte zu vermitteln. Andererseits sei Frankreich getrennt in wenige florierende Metropolen, während 80 Prozent der Bevölkerung auf dem öden Land leben, ohne Anschluss und ärztliche Versorgung. Und selbst innerhalb der Metropolen gebe es eine immer stärkere Segregation zwischen reichen Menschen in den Stadtzentren und ärmeren Bewohnern in den Vorstädten.

Die Freiheit sich aufzulehnen

 

In Frankreich bedeute der revolutionäre Grundwert Liberté heute eigentlich nur noch, die Freiheit zu protestieren. "Die Freiheit sich gegen etwas aufzulehnen, nicht etwas aufzubauen." Die Soziologin fordert deswegen, Institutionen wie etwa Gewerkschaften, die helfen könnten, die Gesellschaft zu organisieren, stärker zu fördern.

In Frankreich gebe es aktuell eine Situation wie in Teilen Ostdeutschlands. "Es gibt nur den Staat, die Regierung von oben, […] und dann irgendwie da drunter ein anonymes Volk." Das dieses Volk aber auch mitgestalten könne, dieser Gedanke sei derzeit schwer zu verstehen, und müsse vielleicht sogar neu gelernt werden.

Auch auf rbb24inforadio.de