Hilfen für Demenzkranke, bessere Unterstützung für pflegende Angehörige: 20 Jahre nach dem Start der Pflegeversicherung sollen die Leistungen deutlich ausgeweitet werden. Die Reform, über die heute im Bundestag debattiert wurde, hat ihren Preis. Wer zahlt, wer profitiert? Wir fassen die Diskussion zusammen und beantworten grundlegende Fragen:
20 Jahre nach Einführung der sozialen Pflegeversicherung will die Bundesregierung das System umfassend modernisieren. Das Leistungsangebot für Pflegebedürftige und Pflegende soll verbessert, die Zahl der Pflegekräfte aufgestockt werden.
Gröhe: "Pflege gibt es nicht von der Stange"
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) warb im Bundestag für die geplante zweite Stufe der Pflegereform. Das Gesetz sei "ein großer Schritt nach vorne", sagte Gröhe am Freitag bei der ersten Lesung im Bundestag. Beim zweiten Pflegestärkungsgesetz, das zum 1. Januar 2017 wirksam werden soll, geht es im Kern um eine Besserstellung von Demenzkranken im Pflegesystem.
Die drei bisherigen Pflegestufen werden zudem durch fünf differenziertere Pflegegrade ersetzt. Bei der Einstufung wird zum Beispiel darauf geachtet, inwiefern sich der Pflegebedürftige noch selbst versorgen kann, wie mobil er ist und wie sein Sozialverhalten ist. Gröhe hob hervor, gute Pflege gebe es "nicht von der Stange", sie werde jetzt mehr zum "Maßanzug".
Linke fordert "solidarische Pflegeversicherung"
Der Bundesgesundheitsminister verwies unter anderem darauf, dass die Pflegeversicherung jetzt früher ansetze. Zudem werde Ernst gemacht mit dem Gedanken "Reha vor Pflege". Gröhe versicherte zudem, dass durch das neue Gesetz niemand schlechter gestellt werde. In einem ersten Schritt waren bereits zum Jahreswechsel zahlreiche Leistungen für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige verbessert worden.
Die Opposition kritisierte das Gesetzesvorhaben als unzureichend: Nach den Worten der Gesundheitsexpertin der Linkspartei, Pia Zimmermann, reicht der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, der die Besserstellung der Demenzkranken regelt, nicht aus. Zudem brauche es mehr qualifiziertes Personal. Viele Pflegekräfte seien frustriert. Sie verlangte ein neues Pflegeverständnis und eine "solidarische Pflegeversicherung".
Elisabeth Scharfenberg (Grüne) kritisierte die rasche Verabschiedung. Wichtige Fragen würden nicht beantwortet. Sie sprach sich für eine Bürgerpflegeversicherung aus. Es seien dringend mehr Mittel für Personal nötig. Die Arbeitsbedingungen müssten sich wesentlich verbessern.
Pflegereform - warum?
2,7 Millionen Menschen bekommen derzeit Leistungen aus der Pflegeversicherung. Demenzkranke fielen bislang durch das Raster, da sie in der Regel körperlich zu fit sind, um als pflegebedürftig zu gelten. Das soll sich nun ändern. Schätzungsweise bis zu 500.000 Menschen zusätzlich sollen von der Reform profitieren. Die Gesamtzahl der Anspruchsberechtigten steigt damit von 2,7 Millionen auf 3,2 Millionen.
Aus drei Pflegestufen werden fünf Pflegegrade
Zentraler Punkt der Reform ist ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff, der Demenzkranken Anspruch auf die gleichen Leistungen einräumt wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Und das geht so: Die drei bisherigen Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt. Die Pflegegrade eins bis drei gelten für geringe, erhebliche beziehungsweise schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit. Der Grad vier umfasst schwerste Beeinträchtigungen, bei Grad fünf kommen "besondere Anforderungen an die pflegerische Versorgung" hinzu. Bei der Einordnung in einen Pflegegrad wird darauf geachtet, inwiefern sich der Pflegebedürftige noch selbst versorgen kann und wie mobil er ist. Zu den Kriterien, die unterschiedlich gewichtet werden, gehören zudem die kognitiven Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen.
Wer profitiert am meisten?
Am deutlichsten werden voraussichtlich die Menschen die Verbesserungen spüren, die heute als Demenzkranke in die sogenannte Pflegestufe 0 eingruppiert sind. In der Regel werden sie zwei Stufen höher rutschen. Ihre Ansprüche steigen auf mehr als das Doppelte.
Müssen bisherige Pflegebedürftige mit Nachteilen rechnen?
Nein, niemand wird schlechter gestellt. Dies hatte die Koalition versprochen. Grundsätzlich würden Leistungsansprüche nur nach oben angepasst, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. Diesen Bestandsschutz soll es auch für Pflegebedürftige geben, die sich in der Hoffnung auf eine höhere Einstufung neu begutachten lassen. Ergibt die Untersuchung, dass sie eigentlich herabgestuft werden müssten, wird dies nicht umgesetzt - und es bleibt bei der vorherigen Einstufung. Allerdings: Für Menschen, die nach Einführung des neuen Systems pflegebedürftig werden, kann sich aber - verglichen mit dem alten System - durchaus eine Verschlechterung ergeben.
Können für die Versicherten neue Kosten entstehen?
Auch zusätzliche Kosten sollen für die Betroffenen vermieden werden. Durch die Einstufung in einen höheren Grad soll sich der zu entrichtende Eigenanteil nicht erhöhen. Alle Pflegebedürftigen der Pflegegrade 2 bis 5 sollen den gleichen Eigenanteil zahlen. Er unterscheidet sich je nach Pflegeheim. Im Schnitt liege der Eigenanteil im Jahr 2017 voraussichtlich bei 580 Euro.
Anders sieht es aus, wenn dem Anbieter der Pflegeleistung durch andere Faktoren Mehrkosten entstehen - etwa durch Gehaltserhöhungen beim Personal.
Was ändert sich für pflegende Angehörige?
Sie sollen unter anderem bei Sozialbeiträgen bessergestellt werden. Wer für die Pflege eines Angehörigen aus dem Beruf aussteigt, soll von den Pflegekassen dauerhaft Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlt bekommen. Bisher war dies nur für sechs Monate der Fall.
Auch sollen die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung angepasst werden. Danach soll künftig die Pflegeversicherung Rentenbeiträge für Angehörige zahlen, die regelmäßig ein Familienmitglied mindestens zehn Stunden wöchentlich pflegen, verteilt auf mindestens zwei Tage. Der Pflegebedürftige muss mindestens Pflegegrad 2 haben. Für die Bemessung der Rentenbeiträge im höchsten Pflegegrad 5 kann künftig von bis zu 100 Prozent des Beitragssatzes ausgegangen werden.
Was kostet das?
Durch die Umstellung entstehen bei der Pflegeversicherung Mehrausgaben von 3,7 Milliarden Euro im Jahr 2017 und bis 2,5 Milliarden Euro in den Folgejahren. Die Überleitung vom alten ins neue System wird wegen des Bestandsschutzes insgesamt gut vier Milliarden Euro kosten - verteilt auf mehrere Jahre. Diese einmaligen Kosten sollen aus der Rücklage der Pflegeversicherung erbracht werden. Die gesamte Pflegereform, zu der auch die angehobenen Pflegesätze gehören, kostet fünf Milliarden Euro.
Wer zahlt das?
Wir alle - durch die Erhöhung des Beitrags in der Pflegeversicherung. Die erneute Anhebung um 0,2 Beitragssatzpunkte zum 1. Januar 2017 bringt 2017 Mehreinnahmen von rund 2,5 Milliarden Euro. Bis 2020 steigen die Mehreinnahmen voraussichtlich auf rund 2,7 Milliarden Euro. Bereits zu Beginn dieses Jahres war der Beitragssatz um 0,3 Punkte gestiegen - zum Start des ersten Pflegestärkungsgesetzes. Der Pflegebeitrag beträgt heute 2,35 Prozent; Kinderlose zahlen 2,6 Prozent vom Bruttolohn.
Wie geht es jetzt weiter?
Nach dem Kabinett ist der Bundestag am Zug. Die Abgeordneten beraten an diesem 25. September über den Entwurf. Der Bundesrat muss nicht zustimmen. Zum Teil soll das Gesetz bereits Anfang 2016 formal in Kraft treten. Die Umstellung auf das neue System wird dann aber noch etliche Zeit dauern, sodass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das Begutachtungsverfahren tatsächlich erst zwölf Monate später in Kraft treten - also 2017.
(Fragen und Antworten zusammengestellt von tagesschau.de)