Standpunkt - Alle bleiben sitzen

Düster sieht es für unsere Kinder aus, wenn auch nach den neuen alarmierenden Zahlen wieder nichts in Gang kommt, was den Namen Reform verdient. Der Standpunkt von Martina Schrey, Inforadio-Redakteurin und Projektleiterin.

Jeder vierte Berliner Viertklässler kann nicht ausreichend rechnen, jeder fünfte nur ungenügend lesen. Nicht nur die Kinder aus so genannten bildungsfernen Familien bleiben zurück, auch die Berliner Professorentochter schafft es nicht mehr, mit der Professorentochter aus Sachsen oder Bayern mitzuhalten. Berlin ist in Sachen Bildung Schlusslicht, das hat der jüngste Grundschulleistungsvergleich der 16 Bundesländer erschreckend auf den Punkt gebracht. Auch andere Vergleichsstudien zeigen: Berliner Schüler hinken oft ein bis zwei Jahre hinterher.

Das ist nicht nur ärgerlich, sondern in der Folge auch ein immenser volkswirtschaftlicher Kostenfaktor: In der Hauptstadt verlässt jeder Zehnte die Schule ohne Abschluss, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 12%, jeder siebte Berliner unter 25 hat keinen Job und ist auf Transferleistungen angewiesen - weit mehr als in jedem anderen Bundesland.

Berlin ist und bleibt Schlusslicht – auch in der Politik. Niemand fordert einen Untersuchungsausschuss Bildung, kein Regierender Bürgermeister stellt sich hin und erklärt die Zukunft unserer Kinder zur Chefsache.

Denn schließlich – in Berlin wurde ja viel getan in den letzten Jahren: Sprachstandstests in den Kitas, frühere Einschulung, jahrgangsübergreifendes Lernen, flexible Schuleingangsphase. Und dann noch: kostenfreie Kita-Betreuung, Einführung der Sekundarschule, Inklusion und selbstverständlich G8.

Das ist viel, vor allem für die, die all diese Reformen vernünftig umsetzen sollen: Die Lehrer, die nicht nachhaltig fortgebildet werden. Die Schulleiter, denen es an qualifizierten Vertretungslehrern fehlt. Die Kinder, die nach wie vor in viel zu großen Klassen lernen und an denen eine Reform nach der nächsten vorüberzieht. Am Ende wird immer an allem gespart, "kostenneutral“ heißt das Zauberwort. Denn schließlich hat Berlin kein Geld. Jedenfalls nicht für Schulen. Auch so bleibt Bildung Schlusslicht.

Keine "Pole-Position" in Sicht

Schlusslicht sind aber auch viele Lehrer: Ganze Generationen dürfen tiefgreifenden gesellschaftlichen Entwicklungen wie Internet und Social Media aus dem Weg gehen. Schon 3-Jährige können intuitiv ein Tablet bedienen, ein über 50-jähriger Lehrer – in Berlin immerhin jeder zweite – muss das noch lange nicht. Und obwohl die Hauptsstadt doch angeblich so hip und sexy ist: Es wird auch nicht von ihm erwartet. Zur Not kann er ja auch mit Filzstiften auf das White Board schreiben. Reformresistente Lehrer werden im schlimmsten Falle versetzt, in der Regel machen sie weiter wie zuvor. In Einrichtungen, in denen es um unsere Zukunft geht, hat die Vergangenheit das Zepter längst noch nicht abgegeben.

Wenn wenigstens die Kitas eine "Pole-Position" hätten – denn hier soll das Fundament entstehen, hier werden viele Kinder womöglich besser auf die Schule vorbereitet als in ihren Elternhäusern. Das war die Hoffnung. Deswegen ist das Angebot kostenlos – und 95 Prozent aller Berliner Eltern nehmen es auch wahr. Allerdings, auch das weiß man mittlerweile: Der Kita-Besuch allein macht die Kinder nicht fitter. Verbindlich zu überprüfende Sprachförderkonzepte – Fehlanzeige. Qualitätsstandards gibt es zwar – regelmäßig überprüft werden sie nicht. Jede Kita darf allein entscheiden, wie und in welchem Umfang sie ihre Sprösslinge fördern will. Das Ergebnis: Fast jedes fünfte Kind kann bei der Einschulung dem Unterricht nur mühsam folgen. Das wissen wir jetzt – dank der Sprachtests, die die Vorschulkinder seit vier Jahren machen. Was daraus folgt, wissen wir nicht.

Diese Lücken können sie kaum noch aufholen

Immerhin bleiben sie jetzt nicht mehr sitzen, weder in der Grundschule noch in der Sekundarschule – aber eigentlich sind sie das schon längst. Diese Lücken können sie kaum noch aufholen. Schon gar nicht, wenn sie an einer so genannten offenen Ganztagsgrundschule gelandet sind, und das ist die Regel. Dann müssen die Eltern plötzlich wieder bezahlen, wenn ihr Kind im Hort weiter gefördert werden soll, denn mit der Schule ist um halb zwei Schluss. Und die Kinder sind im Zweifel wieder zu Hause – eben dort, wo wertvolle Anregungen vielfach fehlen.

Ja, natürlich sollen sich auch Eltern um ihre Kinder kümmern, sie fordern und fördern. Aber PISA hat uns schon vor über 10 Jahren ins Hausaufgabenheft geschrieben: Eine gute Schulbildung muss unabhängig sein vom Elternhaus. Auch da hängt Berlin weit hinterher.

Was die Sekundarschulen – die dann wieder als Ganztagsschulen betrieben werden - danach noch reißen können, werden wir in den nächsten Jahren sehen.

Die Umsetzung von Reformen dauert eben ihre Zeit, heißt es dazu oft aus Politik und Verwaltung. Zeit, die unsere Kinder nicht haben. Denn wenn sie nicht endlich mitgenommen werden, können sie der Zukunft nur noch hinterher schauen.

Martina Schrey

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Ein Mädchen vor einer roten Ampel (Bild: dpa - Montage: rbb)
(Bild: dpa - Montage: rbb)

Wenn die Zukunft sitzen bleibt - Generation Schlusslicht

Noch immer hinken die Schüler in Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern oft ein bis zwei Jahre hinterher. Und das trotz aller Reformen, die es in den letzten Jahren gab. Das Schulsystem probiert sich weiter aus. Eine Bestandaufnahme im Inforadio.