- Gymnasien: Aussieben statt fördern?

Nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung ist unser Schulsystem durchlässig - vor allem nach unten. Deutsche Schüler rutschen viel häufiger eine Schulform tiefer, als dass sie aufsteigen. Auch in Berlin und besonders an den Gymnasien. Woran liegt das? Sylvia Tiegs berichtet.

Elf siebte Klassen musste Schulleiterin Cynthia Segner im vergangenen Jahr in der 12. Schule an der Altonaer Straße aufmachen. So riesig war der Andrang. Doch fast 100 Schüler schafften das Probejahr an ihrem Gymnasium nicht. Cynthia Segner versuchte, ihnen den Wechsel auf eine Sekundarschule psychologisch zu erleichtern - wo sie auch das Abitur machen können ...

"Und dann bekam ich in allen Klassen Fragen von Schülerinnen und Schülern, ‚ist das denn an so einer Sekundarschule auch ein richtiges Abitur?".

Große Verunsicherung also. Dabei gibt es die Sekundarschulen schon seit zweieinhalb Jahren. Sie vereinen die früheren Haupt-, Real- und Gesamtschulen. Dass sie auch das Abitur anbieten, scheint für viele Eltern kein ernstzunehmendes Angebot zu sein. So entscheiden sich Familien für das Gymnasium - obwohl die Klassen dort mit 32 Kindern viel voller sind an den Sekundarschulen, und obwohl das Abi dort nach 6 Jahren geschafft sein muss. An den Sekundarschulen kann man sich ein Jahr mehr Zeit lassen. Viele Eltern wissen das nicht. Und auch nicht, was Gymnasium wirklich heißt - meint Schulleiterin Cynthia Segner:

"Wer sich hierher begibt, muss sich darauf einlassen, dass eben ganz viel über Sprache läuft, dass man viele Texte verarbeiten muss – das muss einem liegen. Einige kommen erst spät auf den Trichter, und das ist dann ihr Ding, und einige nicht. Und in diesem Rahmen können wir auch fördern. Aber wenn die grundsätzlich sagen: ‚Wie? Hausaufgaben machen? Viel lesen?’"

Solchen Kandidaten biete das Gymnasium kaum Spielraum. Denn der Staat erwartet von uns, dass wir die Kinder zur Studierfähigkeit führen, so Cynthia Segner. Und die Eltern von leistungsstarken Schülern erwarteten das auch.

Oft aber scheiterten Kinder an falschen Erwartungen, meint Ralf Treptow von der Vereinigung der Berliner Oberstudiendirektoren:

„Ja, weil wir in Berlin ein wesentliches Gut haben – und dieses Gut ist der freie Elternwillen. Und dann gibt es eben auch Situationen, dass Familien ihr Kind an einem Gymnasium anmelden, obwohl die Grundschule nach sechs Jahren Beobachtungszeit sagt: Förderprognose eigentlich nicht Gymnasium."

Wer sein Kind trotzdem aufs Gymnasium schicke, müsse wissen: es könnte schief gehen. Wobei Ralf Treptow den Begriff "Abstieg" für den Wechsel auf eine Sekundarschule viel zu negativ findet:

"Weil ja der Wechsel zur ISS immer noch das Abitur ermöglicht, und der Wechsel zur ISS erfolgt ja sogar mit der Maßgabe, dass noch nicht mal ein Lernjahr verloren wird. Weil die Kinder, die vom Gymnasium wechseln ja in die 8. Klasse der ISS wechseln können."

Aber auch wenn man es nur "Wechsel" nennt: Schulleiter wie Ralf Treptow und Cynthia Segner wissen, dass das für ein Kind nicht schön ist. Deshalb wünschen sie sich, dass sich Abitur-interessierte Eltern vertrauter machten auch mit den Sekundarschulen - im Sinne ihrer Kinder:

"Dieser Weg ist genauso. Und wir sehen das auch als Schulleiter der Gymnasien, dass wir das begrüßen, dass es diese beiden Schulformen gibt. Und eigentlich wollen wir das nicht, dass das gegeneinander ausgespielt wird."

Weshalb die Bildungsverwaltung des Senats jetzt einen Leitfaden für die Berliner Grundschulen erarbeitet - damit Eltern dort in Zukunft besser beraten werden können, welcher Schultyp später für ihr Kind geeignet ist.

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Ein Mädchen vor einer roten Ampel (Bild: dpa - Montage: rbb)
(Bild: dpa - Montage: rbb)

Wenn die Zukunft sitzen bleibt - Generation Schlusslicht

Noch immer hinken die Schüler in Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern oft ein bis zwei Jahre hinterher. Und das trotz aller Reformen, die es in den letzten Jahren gab. Das Schulsystem probiert sich weiter aus. Eine Bestandaufnahme im Inforadio.