Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), hält am 28.11.2012 bei der feierlichen Eröffnung der Quartierssporthalle auf dem Campus Rütli in Berlin eine Rede. (Bild: dpa)
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- Die Rütli-Schule - in Zukunft ein Lernparadies?

Vor sechs Jahren stand die Rütli-Schule für die Schulform Hauptschule, die in Berlin gescheitert war. Die gibt es nun nicht mehr. Mit Real- und Gesamtschulen sind sie zu Sekundarschulen geworden. Die Rütli-Schule hat sich sogar noch weiter entwickelt. Sylvia Tiegs war dort.

Vor sechs Jahren wurde die ehemalige Rütli-Hauptschule in Berlin-Neukölln bundesweit bekannt, weil hier gar nichts mehr ging: Die Schüler waren deprimiert und teilweise agressiv, die Lehrer überfordert und kapitulierten vor den Problemen.

Das Kollegium schrieb damals den bundesweit bekannt gewordenen Brandbrief an den Senat. Seitdem hat sich viel geändert: die Rütli-Schule von einst gibt es so nicht mehr. Sie ist heute eine Gemeinschaftsschule, an der man sogar das Abitur machen kann.

Sylvia Tiegs über den Wandel einer einst verschrienen Schule.

"Schafft diesen Typus Schule ab!"

Große Pause in der 1. Gemeinschaftsschule Neukölln. Leiterin Cordula Heckmann geht mit schwungvollen Schritten durch ihre Schule.

Cordula Heckmann: "Guten Morgen, Mädels!"
Schülerinnen: "Guten Morgen!"
Cordula Heckmann: "Hallo, grüß’ Sie! Hallo Herr Menke, grüß’ Sie!"
Lehrer: "Morgen!"

Die Schulleiterin lacht, zwinkert, verbreitet aufgeräumte Stimmung. Diese Rundgänge durchs Gebäude macht sie, so oft es ihr prall gefüllter Terminkalender zulässt.

Cordula Heckmann: "Das ist mir ganz wichtig, dass die Schüler mich kennen, dass sie mich wahrnehmen. Das ist mir auch wichtig für die Kollegen! Also, ich glaube nicht, dass Schulleitung funktioniert wenn sie die Tür zumacht und so tut, als hätte das mit ihr nichts zu tun. Man muss ja auch verstehen, wo liegen die Probleme, wo liegen die Schwierigkeiten, wo wird’s jetzt gerade eng, ja?"

2006, als das hier noch die Rütli-Schule war, gab es keine Leitung, die sich hätte blicken lassen können. Die damalige Schulleiterin war nach einem Nervenzusammenbruch monatelang krankgeschrieben - erinnert sich Hilde Holtmanns, seit 28 Jahren Lehrerin hier.

Hilde Holtmanns: "Wir hatten keine Schulleiterin, keine Konrektorin, wir hatten auch teilweise keine Sekretärin. Wir haben wechselweise morgens die Vertretungspläne gemacht, und wenn es dann mal zu einem Konflikt kam - dann eskaliert ein Konflikt, wenn keiner mehr Zeit hat und eigentlich unterrichten muss, dann wird es heftig!"

Und heftig war es eh schon in diesem Viertel, an dieser Schule: sie liegt im Neuköllner Reuterkiez, zwischen Sonnenallee und Maybachufer. Sehr viele Migrantenfamilien, sehr viele Hartz-IV-Empfänger, wenig Perspektive. Es gab hier Zeiten, da bekam kein einziger Rütli-Schüler nach dem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz. Wir konnten so nicht weitermachen, sagt Lehrerin Hilde Holtmanns. Deshalb der Brandbrief.

Hilde Holtmanns: "Ich weiß, dass zu diesem Zeitpunkt an vielen Schulen - gerade an Hauptschulen – es ähnlich war wie bei uns. Und darum haben wir ja auch damals in dem Brief gefordert nicht: 'Schafft die Rütli-Schule ab', sondern: 'Schafft diesen Typus von Schule ab!'"

Die Geburt der Sekundarschule

Und das passierte, tatsächlich: seit Sommer 2010 gibt es in Berlin keine Hauptschulen mehr; sie fusionierten mit den Real- und Gesamtschulen zu neuen Sekundarschulen. Bei Rütli ging der Umbau noch viel weiter: Der Bezirk Neukölln entschied sich, hier im Reuterkiez die erste öffentliche Gemeinschaftsschule zu schaffen. Die Rütli-Hauptschule wurde mit der benachbarten Heinrich-Heine-Realschule und der Franz-Schubert-Grundschule zusammengelegt. Gleichzeitig begann der Aufbau einer gymnasialen Oberstufe.

Cordula Heckmann übernahm die Leitung dieser 1. Gemeinschaftsschule Neukölln - in der festen Überzeugung ...

"… dass ich es schon schwierig finde eine Schulform zu akzeptieren, die unter dem Label läuft: ‚Das sind die Versager. Das war ja jetzt nicht nur Rütli …"

Sylvia Tiegs: "Hauptschule!"
Cordula Heckmann: "Genau. Junge Leute müssen schon immer wieder, auch wenn’s schwierig ist, das Gefühl haben: 'Das ist jetzt im Moment gerade schwer, aber wir kriegen das schon hin!’"

Diesen Geist spüren die Schüler an der Gemeinschaftsschule - sagt Basti, 18, vom Oberstufenzentrum absichtlich hierher gewechselt:

Basti: "Die Lehrer sind gebundener an die Schüler als an anderen Schulen, das ist einfach viel persönlicher – das ist was ich vermisst habe zum Beispiel an den Schulen, an denen ich vorher war, an einem OSZ. An OSZs gibt’s gar keine soziale Bindung mit den Lehrern, und das ist hier sehr, sehr schön!"

Vor sechs Jahren allerdings konnte man davon hier nur träumen, erinnert sich Ezgi, 19. Damals ging sie auf die Heinrich-Heine-Realschule, Wand an Wand mit der Rütli-Hauptschule.

Ezgi: "Es war ziemlich chaotisch. Es hat öfter mal gekracht – einfach weil… es waren zwei verschiedene Welten. Und jetzt, seit man eine Gemeinschaft ist, hat sich das geändert. Man macht sich darüber gar keinen Kopf mehr ob es passt oder nicht, sondern man geht einfach zur Schule. Man wird ziemlich unterstützt. Und die meisten, denke ich zumindest, kommen hier gern hin."

Kein Kind im Kiez soll mehr verloren gehen

Auch die Lehrer aus der alten Rütli-Zeit kommen wieder gern. Pädagogen wie Hilde Holtmanns - vor sechs Jahren verzweifelt, inzwischen wieder voller Tatkraft. Woran liegt das? Die blonde Lehrerin mit dem freundlichen Gesicht lächelt. Und beginnt eine lange Aufzählung:

Hilde Holtmanns: "Angefangen bei dem Personal, bei den Menschen, die hier an der Schule arbeiten inzwischen. Bei der Perspektive, die sich entwickelt hat, auch vor allen Dingen für unsere Schüler, die eben nicht mehr sagen, ich bin 'nur' an einer Hauptschule – nein, jetzt ist die Möglichkeit eben, alle Abschlüsse zu erreichen. Dann das stärkere Einbeziehen der Eltern - unsere Möglichkeiten der Kommunikation mithilfe unserer Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, die uns unterstützen in ihrer Muttersprache, den Kontakt aufbauen können zu den Eltern. Es ist also ein riesengroßer Fächer an Punkten die dazu beitragen, dass es heute ganz einfach anders ist."

Noch dazu ist Schule heute eingebunden in ein Netzwerk - den "Campus Rütli": ein Modellprojekt, einmalig in Berlin. Die umliegenden Kitas, das Quartiersmanagement für den Reuterkiez und der Jugendfreizeitclub "Manege" arbeiten hier mit der Schule zusammen. Und sie mit ihnen. Das gemeinsame Ziel: kein Kind im Kiez soll mehr verloren gehen. Bezirk, Senat und mehrere Stiftungen unterstützen den Campus Rütli, auch finanziell. Nicht aber die Schule selbst. Leiterin Cordula Heckmann muss mit denselben Geldmitteln auskommen wie ihre Kollegen anderswo.

Cordula Heckmann: "Wir sind ’ne Schule, die jetzt ’ne eine normale Schule geworden ist mit allen Herausforderungen und Schwierigkeiten, die es so gibt - in einer benachteiligten Situation. Das ist die Realität!"

Zu der auch gehört, dass die Mehrheit der Schüler nach wie vor jede Menge Schwierigkeiten hat.

Cordula Heckmann: "Also, was sie mit als Handicap reinbringen ist, dass sie vielfach aus Elternhäusern kommen, die das deutsche – Berliner – Schulsystem eher nicht durchdringen. Also sie eigentlich aus Elternhäusern kommen, wo die Eltern nicht wissen: was müssen wir tun, damit Bildung gelingt. Es ist nicht so, dass die Eltern nicht interessiert sind, das kann ich definitiv nicht bestätigen. Das sind Einzelfälle, aber das haben sie bei deutschen Eltern auch. Sondern: sie sind sehr hilflos darin: wie kann ich unterstützen, was muss ich tun."

Dabei hilft ihnen inzwischen Buseyna Sahilli - als sogenannte "interkulturelle Moderatorin". Die Arabisch-Lehrerin spricht auch fließend Türkisch - und ist damit hier im Kiez genau richtig. Die elegant gekleidete Frau übersetzt und vermittelt seit 5 Jahren zwischen der Schule und den Eltern. Zu alten Rütli-Zeiten herrschte zwischen beiden Seiten noch Funkstille.

Buseyna Sahilli: "Sie haben ihre Kinder in die Schule gebracht und – ‚ich möchte nicht mehr davon wissen. In diesem Motto sind sie gegangen. Und mit der Zeit – durch meine Anrufe, durch meine Begleitung - hat es sich ganz doll geändert. Dass die Eltern selber mich anrufen, und selber mich fragen, weil sie fühlen, dass es Unterstützung gibt, und sie fühlen sich sicherer. Und dann habe ich mit der Zeit den Eltern beigebracht, dass wir gemeinsam für unsere Kinder dasselbe Ziel haben …"

..  nämlich gute Bildung. Buseyna Sahilli lädt zum Beispiel Vertreter von Firmen zum Frühstück ins Elterncafé ein - und erlebt, wie türkische und arabische Mütter eifrig nach Ausbildungsmöglichkeiten für ihre Kinder fragen. Zu alten Rütli-Zeiten undenkbar. Dennoch: Leicht ist es immer noch nicht, die Schulabgänger nach der 10. Klasse in die Berufswelt zu vermitteln, sagt Lehrerin Hilde Holtmanns. Aber die Schule hat jetzt dafür Kooperationspartner - zum Beispiel die Deutsche Bahn. Ein riesiger Fortschritt für diesen Schul-Standort.

Hilde Holtmanns: "Der Ruf der Schule, das spielt natürlich auch ’ne Rolle. Man sagt nicht mehr: ‚Oh, da kommt jemand von der Rütli-Schule, das wird problematisch’. Das hat sich auch etwas verbessert."

Genauso wie die Anmeldungen von Schülern: immer mehr wollen hierher. Die neue Gemeinschaftsschule ist längst aus dem Schatten der alten Rütli-Schule herausgetreten.

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Ein Mädchen vor einer roten Ampel (Bild: dpa - Montage: rbb)
(Bild: dpa - Montage: rbb)

Wenn die Zukunft sitzen bleibt - Generation Schlusslicht

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