Ein Obdachloser sitzt an einer Einkaufsstrasse in Steglitz vor einem Laden und trägt einen Mundschutz. Ein älterer Mann mit Mundschutz geht an ihm vorbei (Bild: dpa)
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- Obdachlose in Corona-Zeiten: "Wir werden zuerst sterben"

Die kalte Jahreszeit ist für obdachlose Menschen schon in normalen Jahren eine Herausforderung. Nun verstärkt die Pandemie die Probleme. Für die Initiativen der Obdachlosenhilfe beginnt daher eine ganz besondere Kältesaison, wie Inforadio-Reporterin Birgit Raddatz berichtet.

Vor der Kleiderkammer der Berliner Stadtmission sitzen die Menschen auf Stühlen mit gebührendem Sicherheitsabstand; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben Kisten und Kleiderstangen nach draußen gebracht und bringen ihnen die Anziehsachen an den Platz.

In die Kleiderkammer reinlassen können sie derzeit außer den Mitarbeitenden niemanden. Die Räume sind zu klein, das Ansteckungsrisiko wäre zu groß – für beide Seiten. Anna Gindina arbeitet seit fast zwei Jahren für die Berliner Stadtmissio in der Lehrter Straße. Im Winter will die 44-jährige Leiterin zumindest den Hier-Arbeitenden erlauben, die Menschen durchs Fenster zu bedienen."Es wird wahrscheinlich auch mehr Aggression geben, mehr Frustration, wenn es kälter wird. Trotzdem machen sie mit, weil sie Kleidung brauchen."

Fehlende Kleidung

 

Einmal in der Woche dürfen die Obdachlosen in die Lehrter Straße kommen, um sich Kleidung abzuholen. Marek hat sicheinen großen Koffer geben lassen, um seine ganzen Habseligkeiten darin zu verstauen. Die letzte Nacht, die sei schon ganz schön kalt gewesen, erzählt er. "Ich habe sehr gute Schagsäcke, da kann man überleben."

Die Kleiderkammer sei jedoch völlig leer, erzählt Barbara Breuer, Sprecherin bei der Berliner Stadtmission. "Aktuell fehlen uns ganz gang dringend Schlafsäcke, Isomaten, da ist übrhaupt nichts da. Genauso wie Unterhosen, Turnschuhe, Hoodies, warme Jacken - also alles, was man für den Winter braucht."

Ab dem 1. November können Obdachlose wieder bei der Berliner Stadtmission übernachten. Im vergangenen Winter standen hier 120 Plätze zur Verfügung, sagt Barbara Breuer, das wird jetzt nicht mehr gehen, denn es gelten spezielle Hygienemaßnahmen.

Hostels müssen gefunden werden, die Schlafplätze zur Verfügung stellen. Das kostet Geld. Auch der Preis pro Platz in den Unterkünften ist deutlich höher in diesem Jahr, da die Personalkosten – etwa für den Sicherheitsdienst – trotz weniger Plätze gleichbleiben.

Finanzierung der Obdachlosenhilfe

 

In der vergangenen Saison hat die Kältehilfe rund 2,5 Millionen Euro gekostet. Wie viel sie in diesem Winter mehr kosten wird, können viele Bezirke nur schätzen. Friedrichshain-Kreuzberg etwa geht davon aus, dass sie 320.000 Euro für die Saison 2020/21 mehr auszugeben müssen als für die Jahre 2019/20.

Die Probleme bei der Finanzierung kennt der Leiter der Koordinierungsstelle der Kältehilfe, Jens Aldag, zur Genüge: "Das ist so ein altes Thema, das uns seit Jahren schon beschäftigt, dass die finanzielle Ausstattung hängt der Entwicklung weit hinterher hängt."

Kältehilfe und Corona

 

Eine weitere Angst der Träger in diesen Zeiten: Was ist, wenn jemand nachts vor der Tür steht, der Corona-Symptome zeigt? In solchen Fällen sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Gesundheitsamt anrufen.

Marek, der vor der Kleiderkammer mittlerweile seine Sachen im neuen Koffer verstaut hat, macht sich keine Illusionen: "Ehrlich gesagt, wir werden als allererstes sterben. Weil die Hygiene und so, das wird die Menschen, die auf der Straße leben, zuerst treffen."

Die Corona-Pandemie hat bei der Obdachlosenhilfe zutage gefördert, was schon länger im Argen liegt. Die Kältehilfe kann nur das letzte Mittel sein, weiß auch Sozialsenatorin Elke Breitenbach. Deshalb bekundet sie einmal mehr bei der vierten Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe Ende September: "Eigentlich möchte ich weg von der Kältehilfe."

Immerhin ein erster Schritt ist schon getan auf diesem Weg: In der Lehrter Straße entstand in der Hochzeit der Pandemie eine Rund-um-die-Uhr-Einrichtung. Drinnen sieht es ein bisschen aus wie in einer Jugendherberge. Seit dem Frühjahr konnten hier über 100 Menschen unterkommen – und mussten nicht am nächsten Morgen ihr Zimmer räumen. Aber: Wer hier schlafen will, muss Auflagen erfüllen. Bedingung ist, dass die Menschen ihr Leben ändern wollen und im Kontakt mit den Behörden sind.

In eine Notunterkunft in diesem Winter möchte er jedenfalls unter gar keinen Umständen mehr. Er hat jetzt erst einmal eine andere Bleibe, sagt er. Seine Freunde hätten ihm schon oft angeboten zu helfen. Trotzdem ist ihm anzumerken: Die Scham, andere um Hilfe zu bitten oder sie anzunehmen, die sitzt weiterhin tief.