ARCHIV - Zahlreiche Betten stehen am 12.09.2015 in Berlin in einer großen Sporthalle am Olympiapark im Stadtteil Charlottenburg für die Unterbringung von Flüchtlingen.
Bild: Kay Nietfeld/dpa

- Friedrich Kiesinger: "Unser Land lebt von Zuwanderung"

Friedrich Kiesinger ist Psychologe und Sozialunternehmer und betreibt seit dem Herbst 2015 mehrere Flüchtlingsunterkünfte in Berlin. Wie er diese Zeit erlebt hat – und inwiefern das „Wir schaffen das“ für ihn ein weiterlaufendes Projekt ist, darüber hat Inforadio-Reporterin Anna Corves mit ihm gesprochen.

Kiesinger erinnert sich, wie die Geschehnisse im Sommer 2015 sich innerhalb weniger Tag überschlugen. "Wir haben uns dann gemeldet (...), drei Tage später haben wir die Olympiahallen auf dem großen Gelände bei Hertha BSC gemacht", sagt der Geschäftsführer der Betreiberfirma Albatros.

Das Unternehmertum habe damals nicht im Vordergrund gestanden. "Wir haben auch viele Probleme gehabt mit Finanzierung, bis wir endlich Geld bekommen haben", sagt Kiesinger. "Am Anfang war sehr viel Chaos in den Berliner Verwaltungen." In neun Monaten habe Albatros 42 000 Menschen betreut.

 

"Ein völliger Kulturschock"

 

In den großen Unterkünften seien sehr viele unterschiedliche Menschen zusammen gekommen. "Wir haben dann auch festgestellt, dass die Leute untereinander sehr misstrauisch waren", sagt Kiesinger. Das habe zu vielen Konflikten geführt. "Es war für die Menschen, die hier herkamen, teils auch aus Dörfern, ein völliger Kulturschock."

Für Kiesinger waren diese Probleme trotzdem kein Grund anzunehmen, dass die Integration nicht gelingen könnte. "Wir sind mitten in Europa, das habe ich schon von meinen Eltern gelernt: Da kamen die Wikinger, da kamen die Franzosen, da kamen aus dem Osten die Hunnen - schon immer sind wir ein zentrales Durchgangsland", sagt Kiesinger. "Wenn ich mich heute umgucke, die Italiener, die Türken haben alle was mitgebracht, das inzwischen zu unserem Kulturgut zählt." Deutschland brauche weiterhin die Einwanderung, auch, um seinen Wohlstand zu halten.

 

Arbeitswelt zentraler Bereich für Integration

 

Was wurde seit 2015 erreicht? "Wenn wir auf Berlin gucken, haben wir geschafft, dass über 100.000 Menschen aus diesen Flüchtlingsländern inzwischen in Berlin leben", sagt Kiesinger. Ein erstaunlicher Teil sei in Arbeit und Ausbildung angekommen. Es gebe weniger Konflikte und Übergriffe auf Geflüchtete und viele Kinder seien in den Schulen gut integriert.

Ein Fehler sei es gewesen, dass man als Vorraussetzung für eine Arbeit ein Deutsch-Niveau von B2 gefordert habe. "So werden die Menschen an Transferzahlungen gewöhnt", sagt Kiesinger. Auch gegen rechte Ressentiments sei die Arbeitswelt ein zentraler Faktor. "Sobald ich Kollegen habe, die zum Beispiel aus Afghanistan sind, und merke, was die für ein Mensch sind, welche Probleme die haben, dann wird es konkret und ich merke: Der ist ja gar nicht so schlimm." Man müsse sich aber auch damit abfinden, dass ein Teil der Bevölkerung rechts denke. Aber: "Fakt ist, dass die große Mehrheit ein Interesse hat an Integration und auch mithilft", sagt Kiesinger.

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