- Das erste Weihnachten ohne meine Mutter

Familie und Verwandtschaft sind an Weihnachten ein großes Thema - auch im diesjährigen Inforadio-Adventskalender. Anke Schaefer wird im zehnten Adventstürchen nachdenklich: Sie wird in diesem Jahr das erste Weihnachten ohne einen geliebten Menschen verbringen.

Der große Stuhl mit der hohen Lehne, der Königsstuhl bleibt leer. Wir haben das nicht geplant oder beschlossen, es kam einfach so. Niemand hat sich dort hingesetzt, seit in der Nacht zum 11. September meine Mutter überraschend starb. Als die Gäste da waren, vor der Aussegnung, nach der Aussegnung - die Tafel war voll besetzt, alle waren sie gekommen, - da blieb ihr Stuhl immer leer. Wie, als wollten wir es nicht wahrhaben. Wie, als hofften wir, dass sie im nächsten Moment doch noch durch die Tür kommt. Dann stellten wir Blumen auf den Tisch, statt eines Tellers, vor ihren Stuhl. Im September waren es ihre geliebten Dahlien. Dunkelrot und kräftiges Pink.

Jetzt, Weihnachten, wird es vielleicht eine Amaryllis sein. Vielleicht auch ein Weihnachtsstern. Auf jeden Fall: Rot. - Und wir werden das Weihnachtsoratorium hören …

Wir werden an die vielen Momente denken, in denen wir diese Musik und diese Geschichte von der himmlischen Geburt gemeinsam gehört haben. Und dann werden wir Gänsefleisch braten. Ohne Gans kein Weihnachten, das ist die unverbrüchliche Tradition aus der väterlichen Linie, der hatte sich meine Mutter verpflichtet. Als Geschenk an meinen Vater.

Meine Oma hat das Rezept vor fast 50 Jahren mit Füller geschrieben, es hat 1000 Fettflecken, ist kaum noch leserlich, wird aber jedes Jahr hervorgeholt, das ist Teil des Rituals. Sie scheibt: "Hat man den Vogel a) gefangen, b) c) d) gerupft, gesengt gewaschen und wenn möglich auch das Innere nach außen gekehrt, dann verfahre man mit dem tierischen Korso also: Man salze die innere Höhlung mit leichter Hand ein ...". Klingt ganz leicht. Einen ordentlichen Gänsebraten hinzukriegen ist aber alles in allem bis zu Ende gedacht sehr schwer.

Zu meiner Überraschung besteht mein Vater auch in diesem Jahr auf Gans. Den ganzen Vogel zu braten, das trauen wir uns nun wirklich nicht zu. Aber ein paar Stücke, das werden wir schon hinkriegen. Dazu Knödel aus der Tüte und Rotkraut aus dem Eisfach. Wir werden von meiner Mutter sprechen und wissen, was sie sagen würde. Es wird ein bisschen so sein, als sei sie gar nicht tot.

Kurz nach dem 11. September fand ich diese Zeilen aus einem Gedicht von Ringelnatz. Es ist, als hätte sie mir die mitgegeben:

Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern
Meine Liebe wird mich überdauern
Und in fremden Kleidern dir begegnen
Und dich segnen.
Lebe, lache gut!
Mache deine Sache gut!

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Weihnachtsparty um 1928
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Familienbande - Der Inforadio Adventskalender

In diesem Jahr hat sich im Adventskalender von rbb Inforadio alles um die Themen Familienbande, Familienkonstellationen und -traditionen gedreht. Bis Heiligabend hat sich jeden Tag ein neues Türchen für Sie geöffnet. Hier können Sie alle Beiträge noch einmal nachhören.