Leitz-Ordner liegen in Berlin auf der Straße
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100 Sekunden Leben - Ende der deutschen Leitz-Kultur

Was die Leute so aussortieren und vor die Tür stellen, daraus liest rbb24 Inforadio-Kolumnistin Doris Anselm jede Menge ab. In letzter Zeit scheint ein Objekt immer häufiger rauszufliegen: Der Aktenordner. Stirbt hier etwa ein Ordnungsprinzip – oder gar: die Ordnung selbst?

Es ist sowas wie eine Götterdämmerung. Die Ankunft des Erlösers. Oder das Erreichen des gelobten Landes. Ich spreche vom papierlosen Büro. Jahrzehntelang wurde es verkündigt – und an jedem Arbeitsplatz, den ich je innehatte, amüsierten sich die Kollegen über den Glauben ihrer Vorgesetzten und die vergeblichen Versuche, diesen Heiland bei sich zu empfangen.

Und nun? Hat er sich still und leise eingeschlichen. Und zwar durchs Homeoffice. Denn die Stapel leerer Aktenordner, die ich immer öfter ausrangiert an Straßenecken sehe, liegen in Wohngegenden. Das heißt: Sie stammen nicht aus Großraum-, sondern vielfach aus Wohnbüros, von dort also, wo man ungern Platz verschwendet für Archiv und Ablage, und wo man den Druckertoner selbst besorgen muss.

Ich habe mal gelesen, dass jeder Deutsche durchschnittlich acht Aktenordner allein schon mit privatem Kram besitzt. Die Deutschen sind ja auch Fans von Versicherungen. Im Schreibwarenladen hatte ich mal ein Set von vorbedruckten Trennblättern für Ordner in der Hand. Die strukturierten glatt ein ganzes deutsches Leben, von Anfang bis Ende: Haftpflichtversicherung, KFZ-Versicherung, Hausratsversicherung, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Pflegeversicherung, Lebensversicherung. Fehlte nur die Sterbeversicherung.

Inzwischen aber hat angeblich jeder zweite angefangen, Papierkram zu digitalisieren. Auf dem Computer wiederum legen viele Leute gar keine Dateiordner mehr an, sondern arbeiten nur noch mit der Suchfunktion. Hier droht der Tod der deutschen Leitz-Kultur. Online wimmelt es schon von Upcycling-Ideen für Aktenordner. Zum Beispiel kann man Handyhalter daraus basteln. Da hilft also der alte Ordner doch wieder beim Halten von Information. Ich finde, das ist ein würdevolles Ende.