100 Sekunden Leben - Der Schuh: Eine Entdeckung auf dem Berliner Bürgersteig
In Berlin wird der Bürgersteig häufig zum Recyclinghof. Der Müll bleibt dann meist wochenlang liegen. Beim Gang durch die Stadt hat unser Kolumnist Thomas Hollmann jetzt aber eine Entdeckung gemacht, die ihn hoffentlich noch länger moralisch aufbaut.
Dass der Berliner Bürgersteig sich zu einem Ort übler Hinterlassenschaften verwandelt hat, wird Ihnen auch schon aufgefallen sein. Und das Problem sind nicht die tierischen Hinterlassenschaften, sondern die alten Sofas und ausrangierten Matratzen und kaputten Kühlschränke und halbvollen Farbeimer und die Tapetenrollen und Blumenkästen und Kronleuchter und Einmachgläser und was sonst noch raus musste aus der Bude und dem Keller.
Mein Verhältnis zum Berliner Bürgersteig hat durch dessen Zweitnutzung als Recyclinghof stark gelitten. Zumal der Bürgersteigmüll im Gegensatz zu dem im Recyclinghof nicht sortiert wird. Der bleibt einfach liegen, meist wochenlang.
Ins Auge stechendes Weiß-Rot des Schuhes
Als ich nun diesen Schuh sah, wollte ich schon wieder mein stummes Klagelied über den verrotteten Berliner Gemeinsinn anstimmen. Bis mir auffiel, dass der Schuh nicht nur sehr klein war, sondern auch sehr sauber. Wie unbenutzt sah das Turnschühchen aus, das vielleicht einem Zweijährigen passen mochte. Und der Schuh lag auch nicht achtlos auf dem Boden, sondern war auf dem Fensterbrett einer offensichtlich nicht bewohnten Parterrewohnung abgestellt. Vor dem Grau der heruntergelassenen Jalousie stach das Weiß-Rot des Schuhes regelrecht ins Auge.
Und das sollte es wohl auch. War dem Kleinen der Schuh doch womöglich im Buggy vom Fuß gefallen. Und sollte die Mutter oder der Vater den Weg von der Kita nach Hause nochmal ablaufen, würden sie das verlorengegangene Stück schon entdecken.
Ich stand bestimmt fünf Minuten vor dem Fensterbrett. Gerührt und andächtig. Damit hatte ich nicht gerechnet, dass mich der Glaube ans Gute ausgerechnet auf einem Berliner Bürgersteig ereilen würde.