Collage mehrerer Wohnungs-Flyer
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100 Sekunden Leben - Wahlplakat? Nee, Wohnplakat!

Die Berliner Politik ist gerade fertig mit dem Wahlkampf – für viele Menschen in der Stadt geht er dagegen weiter. Sie plakatieren an Laternenmasten, Ampeln und in U-Bahn-Höfen. Verzweifelt kämpfen sie darum, gewählt zu werden – als Mieter für eine Wohnung. Unsere Kolumnistin Doris Anselm beobachtet den wahren Wahlkampf in der Stadt.

Wer will schon ins Abgeordnetenhaus einziehen?! Voll teuer zu beheizen, der hohe Plenarsaal, und Schlafzimmer gibt es meines Wissens gar keine (es sei denn, man blickt mit sehr viel Politikverdrossenheit auf die Büros). Aber was soll’s, inzwischen würden wohl viele normale Leute in Berlin, die keine Wohnung finden, ihr Baby zur Not auf dem Rednerpult wickeln.

Der Mensch lernt von dem, was er sieht. Und der Mensch in Berlin musste nun zum zweiten Mal monatelang Wahlplakate sehen. Vielleicht deshalb finden sich die Strategien der Parteien inzwischen auf Plakaten von Wohnungssuchenden wieder. Hannah zum Beispiel, Studentin, weißblond, hat ein Foto von sich in ein wackliges Zelt montiert, dessen Plane vom Berliner Starkregen gepeitscht wird. Ob das ein Appell von links ans soziale Gewissen ist oder eine rechte Aneignung von Flüchtlings-Schicksalen, entscheiden dann wohl die Wähler – ich meine: Vermieter.

Dagegen erwähnen Sophie, Timo und ihre "1,5-jährige" Tochter Ava auf einem dicken Hochglanzflyer, der fast mehr aussieht, als ob ein Immobilien-Investor dahintersteckt, erstmal ihr "hohes Haushaltseinkommen" und bieten € 5000 Provision, wofür sie aber einen Echtholz-Boden fordern. "Wir bekräftigen den Regierungsanspruch des Kapitalismus", schreiben sie nicht, könnten sie aber.

Eine weniger solvente Familie hat alle Träume aufgegeben. Ihr Plakat wirkt fast schon satirisch: Nur noch ein Dach und darunter drei identische Comic-Figuren, offenbar weiblich, vielleicht ein Hinweis darauf, dass Regenbogenfamilien es auf dem Wohnungsmarkt besonders schwer haben? Oh weh. Liebe Berliner Politik: Bitte beschäftigt Euch jetzt nicht nochmal monatelang mit Euch selbst. Wenn wir zur Not sehr schnell Zweck-WG’s gründen können, dann schafft ihr das auch mit ’ner Koalition.