100 Sekunden Leben - Das Missverständnis mit der Geste
Vor dem Spiel gegen Japan bei der WM in Katar haben die Spieler der deutschen Nationalmannschaft ihre Hand vor den Mund gehalten. Unser Kolumnist fragt sich nach einer gestenreichen WM-Woche, ob der Protest der deutschen Fußballer gegen die Fifa wirklich so eine gute Idee war. Von Thomas Hollmann
Man könnte meinen, die ganze Welt findet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft toll, weil sich die Spieler demonstrativ die Hand vor den Mund gehalten haben. Aber das stimmt gar nicht. In Katar und anderen arabischen Ländern trendet im Netz ein Hashtag, den man übersetzen kann mit „Die Mannschaft der Unnormalen“. Ein User schlägt Manuel Neuer vor, seine Hand doch lieber in den Hintern zu stecken. Andere werfen Antonio Rüdiger und Ilkay Gündogan vor, keine Muslime zu sein, weil sie in einer schwulen Mannschaft spielen.
Das ist das Problem von Gesten: Sie können auch missverstanden werden. Und Leute fühlen sich angesprochen, die gar nicht gemeint sind. Aber wenn man vorher erst umständlich erklären muss, wen man nun kritisiert und wen nicht und warum nicht, dann kann man auch gleich einen Witz erklären. Was ja manche Leute machen. Aber die stehen auf der Party auch immer alleine rum.
Louis van Gaal will nichts mehr von Politik hören
Nein, Gesten müssen zünden und zur Nachahmung animieren. Aber das tut der zugehaltene DFB-Mund offensichtlich auch nicht. Der niederländische Trainer Louis van Gaal will seit gestern nichts mehr von Politik hören. Seine Mannschaft sei in Katar, um Weltmeister zu werden. Punkt. Aus. Schluss mit Geste.
Vielleicht wäre es etwas Anderes, hätte die deutsche Mannschaft gegen Japan gewonnen. Oder zumindest nicht verloren. Denn Gesten muss man sich auch leisten können. Deshalb haben die beiden schwarzen US-Sprinter 1968 in Mexiko ihre Black-Power-Fäuste auch erst auf dem Siegerpodium geballt. Weil sie wussten: Winner überzeugen mehr als Loser.
Und schon deshalb sollte die deutsche Mannschaft bei der WM weiterkommen: Weil sie andernfalls ein missverständliches Verliererbild abgibt.