Eric Graydon:
Heute geht es um China und Corona – genauer gesagt um unser Verhältnis zu China in Zeiten von Corona. Gerade erst ist die neuste Runde der Verhandlung über ein Investitionsabkommen zwischen der EU und China zu Ende gegangen. Es gab mittlerweile mehr als 30 dieser Runden. Laut den Teilnehmenden hat sich jetzt etwas getan, aber ob ein Abkommen bis Ende des Jahres stehen wird, ist mindestens fraglich. Was vor allem auffällt, ist eine spürbar härtere Haltung der Europäer gegenüber China. Der Ton zwischen den beiden Seiten war schon vor dem Gipfel rauer geworden. Anfang September hatte der Bundesaußenminister auf einem Podium mit dem chinesischen Amtskollegen diesen in die Schranken gewiesen, als der einem tschechischem Parlamentarier wegen einer Reise nach Taiwan drohte. Man kommt um den Eindruck nicht herum, dass diese Entwicklung auch etwas mit der Corona-Pandemie zu tun hat. Deshalb würde ich gern mit Folgendem anfangen: Auch in China ist die Pandemie noch nicht besiegt, aber das Land schlägt sich nun schon deutlich länger damit rum als wir und hat auch in einigen wichtigen Punkten anders auf diese Krise, auch auf deren ökonomische Auswirkungen, reagiert als die Europäer. Was sind da für Sie die wichtigsten und prägnantesten Unterschiede?
Marcel Fratzscher:
Der allerwichtigste Unterschied zwischen China und Europa ist, dass wir eine Demokratie sind und China nicht. China hat zwar eine Marktwirtschaft, sogar eine sehr brutale Marktwirtschaft, aber ein kommunistisches Regime, das das Land mit einer harten Hand führt - mit einer klaren Vision, aber eben auch mit sehr starken Restriktionen. Das erklärt für mich eigentlich sehr viele Unterschiede. Unterschiede, wie man auf die Krise reagiert hat, wie man auch wirtschaftlich vorgeht, wie man die eigene Rolle in der Welt sieht, wo die eigenen Ängste und Sorgen sind - das ist ein grundlegender Unterschied, der vieles erklärt.
China hat die Pandemie als erstes gehabt. Wahrscheinlich im Dezember ist das Virus in Wuhan ausgebrochen und hat sich dann verbreitet - erst in China und dann natürlich global. Alleine, wenn man sich anschaut, mit welchen Maßnahmen China auf diese Krise reagiert hat, sieht man den Unterschied: China hat wirklich einen Lockdown gemacht. Wir hatten in Deutschland nicht wirklich ein Lockdown, dass es Ausgangssperren gab, aber in China durften sie nicht raus und in China mussten sie jede Kleinigkeit registrieren, wenn sie etwas gebraucht haben oder machen wollten. China ist damit in der Pandemie wahrscheinlich nicht schlecht gefahren. Ich sage wahrscheinlich, weil wir uns nicht wirklich auf die Zahlen und offiziellen Bekanntgaben Chinas immer verlassen können, das wissen wir und Europa hat sehr anders auf diese Krise reagiert - natürlich deutlich weniger restriktiv, aber auch sehr heterogen. Wir haben 27 nationale Demokratien in Europa, einige haben recht deutliche Einschnitte gemacht (z.B. Italien oder Spanien), wo sie schon sehr starke Restriktion hatten. Andere wie Schweden waren sehr liberal, haben sehr wenig Restriktionen gemacht und sind anders durch die Krise gekommen. Klar kann man das dann auf Grundlage der Menschen und Menschenleben messen und sagen: China ist in der Hinsicht wahrscheinlich besser durch die Krise gekommen. Aber wir in Europa legen ganz großen Wert auf diese Grundrechte und das in aller Kürze ist für mich eigentlich der Hauptunterschied zwischen Europa und China.
Eric Graydon:
Das deutsche Verhältnis zu China ist natürlich sehr kompliziert. Einerseits gibt es immer wieder Kritik an den Menschenrechtsverletzungen im Land, zuletzt natürlich vor allem wegen der Situation in Hongkong und dann auch wegen der massenhaften Internierung von Uiguren in Xinjiang, gleichzeitig ist die deutsche Industrie - besonders vor allem natürlich die deutschen Autobauer - von China abhängig. Wenn man sich anguckt, wie dieses Land mit der Corona-Pandemie umgegangen ist und wie sich das auch von dem unterscheidet, was wir hier in Europa gemacht haben: Inwieweit ist das, zusammengenommen mit den wirklich gravierenden Unterschieden, die es zwischen den Systemen gibt, vielleicht ein Grund, sich das mit dieser wirtschaftlichen Abhängigkeit noch einmal zu überlegen?
Marcel Fratzscher:
In den vielen Hauptstädten in Europa heißt es immer im Verhältnis zwischen Europa und China: Deutschland ist Europas Schwäche, denn die sprechen Menschenrechte, Demokratie, Grundwerte, die zwischen Europa und China grundlegend unterschiedlich sind an und die Klage viele andere Europäer ist, dass wir Deutschen, wenn es zu diesen Diskussionen kommt, eigentlich immer die wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund stellen und denen die höchste Priorität geben und sagen: Wir können jetzt nicht so hart sein mit China. Guck mal, wir wollen doch mit denen gute Geschäfte machen und dort Autos und andere Dinge verkaufen. Da müssen wir jetzt mal ein bisschen vorsichtig sein, sonst sind die Chinesen böse. Es ist doch gut, dass die böse sind auf die Amerikaner, dann machen sie mehr Geschäfte mit uns und dann profitieren wir davon. Das ist nun mal Deutschlands Geschäftsmodell. Wir haben einfach eine sehr offene Volkswirtschaft, sind sehr abhängig von den Exporten und China ist nun mal der Wachstumsmarkt. Nehmen Sie mal die großen Automobilhersteller wie Volkswagen, die fast 40 Prozent ihrer Gewinne in China erzielen. Bei Daimler und BMW ist das ein bisschen weniger, aber es ist auch ein Viertel oder mehr. Das zeigt: China ist wirtschaftlich gesehen für diese deutschen Unternehmen wichtiger als Deutschland. Das ist auch vielleicht nicht überraschend: China hat 1,3 Milliarden Menschen und ist in den letzten 40 Jahren fast zehn Prozent jedes Jahr wirtschaftlich gewachsen, also unvorstellbare Zahlen. Die Volkswirtschaft hat sich fast alle sieben/ acht Jahre verdoppelt von der Größe her und das führt zu einer hohen Abhängigkeit Deutschlands von China.
Andersherum natürlich deutlich weniger. China ist ein Riese von der Bevölkerung her. Mittlerweile ist China wahrscheinlich auch von der Volkswirtschaft größer als die Europäische Union. Wir haben 450 Millionen Menschen in der Europäischen Union. China hat 1,3 Milliarden Menschen. Da sieht man auch, wo das perspektivisch hingeht: Solange China deutlich stärker wächst als Europa, wird China Europa immer stärker wirtschaftlich abhängen. Das heißt: Wir haben jetzt eigentlich noch so eine Chance, solange Europa wirtschaftlich gesehen einigermaßen auf Augenhöhe mit China ist, Paroli zu bieten und unsere Interessen durchzusetzen. Und da ist die Schwierigkeit, dass wir in Europa eben nicht mit einer Stimme sprechen, sondern mit 27 nationalen Stimmen und diese 27 nationalen Stimmen unterschiedliche Interessen haben. Wie gesagt: Deutschland stellt die wirtschaftlichen Interessen, sicherlich zum Teil auch verständlicherweise, stärker in den Vordergrund als das andere tun. Und China ist clever. Die spielen natürlich den einen Europäer gegen den anderen aus, die investieren dann in Zentral- und Osteuropa, bauen Eisenbahnstrecken von Budapest nach Belgrad, kaufen Häfen in Griechenland, in Piräus. China geht ganz strategisch da rein, um sich Freunde und Partner in Europa zu kaufen. So nenne ich das jetzt mal ein bisschen provokativ und das ist letztlich unsere europäische Schwäche, wo wir eben zuerst national und nicht europäisch denken. Die Wirtschaft ist global, alle wichtigen Herausforderungen von Klimaschutz, Klimawandel, Migration, Digitalisierung, Finanzmärkte - alle Herausforderung sind global. Europa kann eigentlich einem Riesen wie China nicht das Wasser reichen, solange wir nicht verstehen, dass nur Europa als Ganzes, wenn es mit einer Stimme spricht, die eigenen Interessen wahren kann. Das ist für mich die Problematik, in der Deutschland eine wichtige Rolle spielt und wie gesagt, durch unsere wirtschaftliche Abhängigkeit vom Rest der Welt und Chinas machen wir uns angreifbar und da ziehen wir im Augenblick immer noch den Kürzeren.
Eric Graydon:
Gut, aber wenn das die Diagnose ist, ist die Folgefrage relativ offensichtlich, nämlich: Was machen wir dann? Wenn Sie sagen, China ist als Volkswirtschaft schon fast auf dem Niveau, wenn nicht schon über dem Niveau der Europäischen Union, dann kommt es irgendwann an den Punkt, wo man sagt: Okay, wenn wir jetzt diagnostizieren, wir sind zu abhängig von denen, dann gibt es effektiv nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir versuchen, diese Abhängigkeit zu reduzieren, indem wir uns von China weg diversifizieren, indem wir versuchen, die deutsche Autoindustrie so umzupolen, dass sie woanders an ihre Gewinne kommt als nur in China. Oder die zweite Alternative ist, dass wir so massiven Druck auf China ausüben bei diversen Punkten, die uns Kopfzerbrechen bereiten (z.B. Menschenrechtsverletzungen oder Investitionshemmnisse), dass wir es quasi schaffen, China dazu zu zwingen, das zu ändern. Ich für mich sehe jetzt nicht, welches von diesen hochgradig unwahrscheinlichen Szenarien das wahrscheinlichere ist, vielleicht etwas einfacher gezeigt: Was um Gottes Willen machen wir denn dann?
Marcel Fratzscher
Die erste Optionen, die Sie aufzählen ist eigentlich keine Option, also weniger abhängig von China zu werden. China ist systemisch. Chinas Volkswirtschaft in der Welt macht ungefähr 20 Prozent aus. Aber viele Dinge kann man ohne China nicht. China produziert viele wichtige medizinische Produkte, die man nicht so schnell ersetzen kann. China hat seltene Erden, z.B. für unsere Handys). China ist global so stark, investiert in vielen Ländern und hat so viel Zugang zu Rohstoffen oder fast schon Monopole über Rohstoffe. Der Zug ist abgefahren, zu sagen, wir lösen uns von China und der Abhängigkeit – das ist nicht möglich.
Die einzige Option ist in der Tat die zweite: Mit China verhandeln. Europa und Deutschland haben sich jetzt seit über 20 Jahren über den Tisch ziehen lassen von China. China ist Anfang der 2000er Jahre in die Welthandelsorganisation WTO eingetreten und hat sich da verpflichtet, sich zu öffnen und nach den Welthandelsregeln zu spielen und mitzumachen. Und das ist bis heute nicht passiert. Als deutsches Unternehmen in China werden sie meistens in ein Joint Venture (Unternehmen, die nicht alleine dort tätig sein dürfen, sondern einen chinesischen Partner haben müssen) gezwungen. Sie müssen dort mit neuen Technologien produzieren, sodass die über diese neuen Technologien lernen können. Sie dürfen als deutsches Unternehmen in viele Sektoren in China (z.B. in Telekommunikation oder Transport) gar nicht investieren. Das sind Sektoren, die sind quasi geschlossen, wogegen es für chinesische Unternehmen völlig natürlich ist, in diese Sektoren in Deutschland/Europa investieren zu können. Als deutsches Unternehmen haben sie kaum Zugang zu Verträgen des Staates. In Europa werden viele Ausschreibung gemacht, weil der Staat öffentliche Beschaffung besorgen muss und da kann sich jeder bewerben. Huawei ist ein Beispiel: Über 5G-Netze diskutieren wir heftig. Soll man Huawei als chinesisches Unternehem jetzt einen Zugang geben oder nicht? In China ist es kaum möglich, für viele ausländische Unternehmen überhaupt Zugang zu solchen Verträgen zu haben.
Also es gibt einfach eine wahnsinnige Unwucht, wo nicht mit den gleichen Spielregeln gespielt wird. Chinesische Unternehmen haben viel mehr Vorteile im europäischen Markt als umgekehrt. Und da ist die Realität, dass viele europäische Unternehmen da ins Hintertreffen geraten. Und China war lange Zeit die verlängerte Werkbank. Da hat man gesagt: Das ist doch alles nicht so schlimm. Die Chinesen produzieren die Vorleistungen, Dinge, die wir in Europa nicht fertigen wollen, weil sie einfach zu wenig Wertschöpfung haben und dann nutzen wir das hier. Aber das ist ja nicht mehr der Fall. China ist in vielen Branchen mittlerweile auf Augenhöhe oder hat europäische Unternehmen überholt. Huawei ist ein Beispiel. Man sieht, es gibt noch Nokia und Ericsson im Bereich dieser digitalen Netze, die aber auch schon im Hintertreffen sind gegenüber Huawei.
In anderen Sektoren hat China ganz klar den Anspruch, weltweit führende Technologien herzustellen. Und da dürfen wir nicht so naiv sein, zu sagen: Das ist halt schwierig. Wir wollen weiter unsere Autos und andere Dinge dort verkaufen. Jetzt dürfen wir mal nicht zu hart mit denen sein. Ich gebe es ungern zu, aber Donald Trump hat nicht ganz unrecht, wenn er China deshalb massiven Protektionismus vorwirft und sagt: China, ihr müsst euch ändern, ansonsten kommt es zu einem Handelskrieg. Jetzt hat Donald Trump meiner Ansicht nach den Fehler gemacht, dass er das sehr ungeschickt und auch unilateral gemacht hat. Eigentlich ist der richtige Weg für die USA und Europa, beides Demokratien mit ähnlichen Werten, zu sagen: Wir einigen uns, wie diese Regeln sein sollen und wir üben Druck auf China aus. USA und die EU sind zwei bis dreimal größer von der Volkswirtschaft her als China und sagen den Chinesen: So jetzt müsst ihr nach den Regeln spielen und ihr dürft euch nicht mehr unfaire Vorteile verschaffen. Es geht nur darum, China bewusst zu machen: Wir brauchen gleiche Regeln für alle. So funktioniert eine Volkswirtschaft und ein marktwirtschaftlicher Wettbewerb, wenn ihr euch da nicht dran haltet, dann kommt ins Hintertreffen.
Eric Graydon:
Wenn man schon zugibt, dass natürlich die Perspektiven von Herrn Trump in dieser Sache vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen sind, dann kann man vielleicht auch im zweiten Schritt sagen: Gut, wir finden es natürlich hochgradig unorthodox. Es ist auch wahrscheinlich in puncto Strategie relativ dumm, dass die USA alleine versuchen, diesen Handelskrieg zu führen. Ich meine, es gibt bereits einen ganzen Katalog an Strafzöllen zwischen den beiden. Das ist jetzt ein bisschen zurückgefahren worden dieses Jahr, aber die Auswirkungen dieses Handelskrieges stehen immer noch. Jetzt kann man sagen: Es wäre natürlich schöner gewesen, wenn sie es vorher mit uns geklärt hätten, haben sie aber nicht. Wenn wir sagen, es muss eine gemeinsame Front der Europäer und der Amerikaner gegen die Chinesen geben, sonst kriegen wir die nicht zum Einlenken, ist es da nicht vielleicht an der Zeit, dass man wirklich sagt: Das Vorgehen von Herrn Trump gefällt uns nicht, aber vielleicht müssen wir uns jetzt einfach neben ihn stellen und sagen, dass wir diese Auffassung und Bedenken teilen und wir werden jetzt mit den Amerikanern gemeinsame Sache machen?
Marcel Fratzscher:
Man will sich natürlich ungern neben Donald Trump stellen. Die Hoffnung ist, dass man nach November mit einem anderen Präsidenten vielleicht leichter verhandeln kann und dass man da eher auf einen gemeinsamen Nenner kommt. Es gibt auch viele Unterschiede zwischen den USA und Europa in vielen Fragen, auch wirtschaftlich gesehen. Viele erinnern sich, dass wir vor einigen Jahren mal dieses Europa-Nordamerikanische-Freihandelsabkommen TTIP verhandelt haben, was dann auf Eis gelegt wurde. Es war dann eine große Sorge, dass wir dann Chlorhühnchen in Deutschland essen müssen und alles ist ganz schrecklich. Und es wurde sehr emotional behandelt. Aber wenn man mal einen Schritt zurückgeht und diese globale Perspektive nimmt, dann sieht man, dass es eigentlich ein europäisches und US-amerikanisches Freihandelsabkommen geben muss. Das ist die einzige Chance, wie wir die Werte, die uns wichtig sind, teilen können (z.B. Datenschutz oder ethische Themen). Wie können wir die in den globalen Regeln verankern und auch China dazu bekommen, nach diesen Regeln zu spielen? Also dazu müssten wir Europäer uns mit den Amerikanern erst einmal einigen, deshalb sehe ich es als so ungeheuer wichtig, dass wir ein Abkommen mit den USA hinbekommen. Klar muss man da viele Dinge verbessern, auch wie man das mit Investitionsabkommen mit den USA macht. Wie kann man sicherstellen, dass große Unternehmen das nicht missbrauchen? Investitionsschutz ist ein Thema, aber das wäre für mich der erste Schritt: Sich mit den Amerikanern einigen und dann sagen, wie wir die globalen Regeln des Welthandels gestalten wollen. Ich bin sicher, große Teile oder komplett Südamerika, die meisten Teile Afrikas und auch viele Teile Asiens (z.B. Südkorea, Japan, Indonesien oder Indien) werden sich an diesen Regeln beteiligen. Und so glaube ich, ist der einzige Weg, wie man China zum Einlenken bekommen kann.
Eric Graydon:
Dann vielleicht noch einen letzten Punkt dazu. Das, was Sie ansprechen, war die Architektur des Welthandels, wie wir sie in der dunklen und grauen Vorzeit von so nach 2016 geplant hatten. Es gab die TTIP-Verhandlungen oder die TPP (Transpazifische Partnerschaft) eben auch mit dem expliziten Ziel natürlich, China in die Schranken zu weisen. Das ist nun eine ganze Weile her. Wir halten auf die nächste Präsidentschaftswahl zu. Man kann natürlich aus europäischer Perspektive hoffen, dass es eben nicht zu einer zweiten Trump-Amtszeit kommt. Trotzdem, sollte der nächste US-Präsident Biden heißen, geht dann natürlich eine neue Runde Verhandlungen los. Und man kann sich ungefähr ausmalen, TPP gibt es nun bereits schon, ob die Amerikaner da einfach einsteigen, ist wenigstens fraglich. Ob TTIP dann einfach aus der Schublade geholt wird, einmal der Staub abgeblasen wird und dann die Entscheider unterschreiben, auch eher unwahrscheinlich. Das heißt, es wird eine ganze Weile dauern.
Die Frage, die sich mir dann stellt vor dem Hintergrund dieser Situation zwischen China, den Europäern aber natürlich auch den USA: Haben wir die Zeit? Können wir uns das erlauben, nämlich eben zu dieser gemeinsamen Einigung zu kommen und sich dann als frischgebackene Vertragspartner vor China hinzustellen und zu sagen: So, und jetzt macht mal bitte nach unseren Regeln, weil sonst knallt es. Können wir uns das leisten? Oder ist es nicht einfach vielleicht an der Zeit, jetzt zu sagen: Gut, das wäre schön. Und vielleicht kriegen wir das auch irgendwann mal hin, aber wir brauchen jetzt erstmal eine Einigung zwischen den USA und Europa, dass wir gemeinsame Sache machen, um die Chinesen in die Schranken zu weisen?
Marcel Fratzscher:
Ich sehe keine Alternative für eine viel engere Partnerschaft, auch im Welthandel zwischen Europa und den USA. Denn letztlich geht es beim Welthandel nicht darum, wie viel Zölle auferlegt werden oder gibt es Quoten, wer wie viel wohin exportieren darf, sondern es geht um Standards. Das ist eigentlich das zentrale Thema: Standards, wie Produkte auszusehen haben, wie man miteinander umgeht, welche Regeln es gibt, von Datenschutz über ethische Standards, über Wettbewerbsstandards, über Spezifikationen, wie Produkte sein müssen, um für Konsumenten sicher und gut zu sein, was letztlich Werte widerspiegelt. Werte, die uns als Gesellschaft und als Demokratie wichtig sind. Ich denke, es geht hier um nicht weniger als um einen Systemwettbewerb zwischen Demokratien und autokratischen Regimen. Und im Augenblick ist es doch so, dass wir in einer Welt sind, die bipolar ist, die von zwei Mächten bestimmt wird - von den USA und von China. Alle wichtigen geopolitischen und wirtschaftlichen Entscheidungen werden in diesen zwei Volkswirtschaften entschieden. 7
Und wenn Sie sich anschauen, wer die Wirtschaft in der Zukunft dominiert, wenn Sie sich die Unternehmen anschauen, die in den Zukunftsbereichen (digitalen Dienstleistungen, Informationskommunikationstechnologien) dominant sind, dann sind das amerikanische Unternehmen und chinesische Counterparts und vielleicht noch ein paar Unternehmen in Korea. In Europa sind wir in diesen Zukunftsbereichen fast blank. Wir in Europa müssen uns überlegen: Wollen wir langfristig in dieser bipolaren Welt leben und so ein bisschen wie ein Diplomat/ Vermittler eine Rolle spielen und sagen: Wir vermitteln zwischen USA und China und versuchen, uns ein bisschen opportunistisch zu verhalten und gucken, wo kommt am meisten bei rum? Oder wollen wir, dass die Welt eine tripolare wird, in der Europa mit am Tisch sitzt und mitentscheidet?
Das ist für mich die grundlegende Frage, die wir uns endlich in Europa stellen müssen, auch in Deutschland. Ich habe gestern ein sehr schönes Zitat gehört: "In Europa haben die allermeisten Länder verstanden, dass sie kleine Länder sind, aber ein paar noch nicht" Und dazugehört auch letztlich Deutschland. Wir sind ein kleines Land. 82 Millionen Deutsche - im Vergleich zu 1,3 Milliarden Chinesen, im Vergleich zu 320, 330 Millionen Amerikanern. Wir können unseren nationalen Interessen weltweit überhaupt kein Gewicht verleihen oder nicht viel Gewicht verleihen, sondern nur als Teil eines starken Europas.
Und deshalb ist meine Antwort auf ihre Frage: Was ist die richtige Strategie? Erst einmal müssen wir in Europa uns stärker integrieren. Das heißt nicht, jede einzelne Entscheidung nach Brüssel und nach Europa zu übertragen, ganz und gar nicht, Subsidiarität ist wichtig. Aber bei den wichtigen Entscheidungen im Welthandel, bei Handelsfragen, beim Binnenmarkt oder bei der Währung müssen wir gemeinsame Regeln in Europa haben. Wir müssen den Euro viel stärker als eine globale Währung etablieren. Das ist nicht nur wirtschaftlich sinnvoll für europäische und deutsche Unternehmen, sondern das ist auch letztlich ein geo- und machtpolitisches Instrument. Zu sagen, da sind wir jetzt mal agnostisch und halten uns zurück, ob der Euro jetzt eine globale Währung wird oder nicht, ist völlig naiv und schadet letztlich Europa und Deutschland wirtschaftlich wie politisch.
Also für mich ist der erste Schritt: Europa muss sich einen. Wir müssen verstehen, dass wir nicht so weitermachen können und sagen: Souveränität müssen wir auf Nationalstaatsebene bewahren. Nein, wir sind dabei, Souveränität zu verlieren und die Logik ist: Souveränität können wir in Deutschland, Frankreich oder in Portugal nur dann bewahren, wenn wir die Souveränität in vielen Bereichen auf europäischer Ebene teilen. Das heißt: Kompetenzen nach Europa zu verlagern und gemeinsam zu machen, heißt nicht Souveränität abzugeben, sondern das heißt letztlich Souveränität zu gewinnen. Und solange wir immer in diesen nationalen Denkmustern verhaftet bleiben, werden wir scheitern und wir werden keine Chancen haben, dass entweder China oder die USA selbst unter einem freundlicheren und zugewandteren und verständlicheren Präsidenten die Europäer ernst nimmt und mit ihnen auf Augenhöhe verhandelt. Und deshalb sehe ich keine Alternative als diese Sequenz, viel stärkere Integration Europas in wichtigen Bereichen auch wirtschaftlich gesehen, eine klare Partnerschaft mit den USA, um dann globale Regeln zum Teil neu zu schreiben und so zu gestalten, dass sie letztlich auch unsere wirtschaftlichen, politischen und demokratischen Interessen schützen.
Eric Graydon:
Wenn Sie mir das vor einem Jahr gesagt hätten, dann hätte ich gesagt: Das Projekt haben wir dann bis zur nächsten Jahrhundertwende durch. Erstaunlicherweise hat sich Einiges getan. Das haben wir in diesem Podcast auch schon des Häufigeren erörtert, nämlich: Die europäische Integration mit der gemeinsamen Aufnahme von Schulden. Das ist natürlich immer noch nicht durch die Parlamente und kann alles noch schiefgehen, aber wenigstens ist der Beschluss da, dass die EU sich gemeinsam verschuldet, um gegen diese Corona-Krise anzukämpfen. Das wäre vollkommen undenkbar gewesen vor nicht allzu langer Zeit. Das ist das prägnanteste Beispiel, würde ich sagen, für einen Trend, den wir in Europa sehen und der sich natürlich auch auf dieses Thema "Beziehung zu China" auswirkt. Europa scheint gestärkt zu sein. Europa scheint als Institution aber auch vom globalen Auftreten her gestärkt. Diese Szene, die ich da eingangs beschrieb, wo Heiko Maas seinen chinesischen Amtskollegen auf dem Podium in die Schranken weist und sagt, Drohungen gegen Parlamentarier passen nicht ins europäische Konzept. Wir agieren hier zusammen und so etwas machen wir nicht - auch das ist natürlich etwas gewesen, was vor noch nicht allzu langer Zeit ungewöhnlich gewesen wäre. Deswegen die Frage: Inwieweit hat sich durch diese Corona-Pandemie und die europäische Reaktion darauf das europäische Selbstbild verändert, auch dann zum Beispiel im Zusammenhang mit einem Land wie China? Etwa wenn wir jetzt auf die Entwicklung beim Euro gucken, der nun stark zugelegt hat, eben auch als Konsequenz des europäischen Handelns gegenüber dieser Krise. Inwieweit hat uns diese Pandemie vielleicht als Europa nach vorne gebracht und handlungsfreudiger oder handlungsstärker gemacht?
Marcel Fratzscher:
Es heißt häufig, dass Europa nur in einer Krise Schritte nach vorne macht und die Integration in Europa besser macht und das gilt natürlich für diese Krise. Sie haben das gemeinsame Wiederaufbauprogramm angesprochen. Es gibt jetzt zum ersten Mal die Möglichkeit, dass man sich systematisch neu verschuldet als Europäische Union. Nur wir können nicht immer sagen, dass wir auf die nächste Krise warten und dann geht es mal wieder einen Schritt voran. Diese Zeit haben wir nicht. Und in der Tat stehen wir jetzt in einem Wendepunkt in Europa, an dem wir uns diese Thematik bewusst machen müssen. Wollen wir in einer bipolaren Welt leben mit China und USA, die eigentlich alle wichtigen Entscheidungen treffen? Oder wollen wir Europäer mit am Tisch sitzen und mitentscheiden? Und dann müssen wir alle Konsequenzen ziehen, auch in Deutschland. Meine Hoffnung ist, dass wir jetzt wirklich grundlegend Europa reformieren und wandeln. Der Green New Deal von Ursula von der Leyen von der Europäischen Kommission zu sagen: Klimaschutz muss einer der obersten Prioritäten sein - das können wir nur als Ganzes Europa machen. Ich hoffe auch, dass die Bundesregierungen anderer Länder mitmachen und sagen: Ja, wir brauchen ambitioniertere Ziele. Wir müssen hier Vorreiter sein.
Also ich sehe diese Pandemie als eine riesige Chance, endlich den richtigen Pfad für Europa einzuschlagen. Es ist eine Hoffnung, ob sie sich bewahrheiten wird, hängt letztlich davon ab, ob die nationalen Staats- und Regierungschefs - und da liegt nach wie vor der allergrößte Teil der Macht in Europa - gewillt sind, sich zusammenzuraufen und gemeinsame Vision für Europa zu entwickeln.