Symbol Nachhaltigkeit: Geldscheine und Stempel mit Nachhaltigkeit Geldscheine und Stempel mit Nachhaltigkeit
Download (mp3, 28 MB)

Folge #16 vom 01.07.2020 - Der blinde Fleck

Die Konjunkturpakete der Bundesregierung sind nicht generationengerecht. Die Corona-Hilfen würden zwar die Wirtschaft stabilisieren aber gleichzeitig eine echte Transformation der Wirtschaft verhindern. In der neusten Folge unseres Podcast, fordert Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, deshalb für ein Zukunftspaket, dass den Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit und Umweltschutz ermöglicht.

Eric Graydon:
Wir wollen heute wieder zwei große Themen angehen: Einmal wollen wir noch mal einen Blick auf die Mehrwertsteuersenkung werfen, die ja heute offiziell in Kraft tritt. Und zwar wollen wir uns einmal das Beispiel Großbritannien anschauen, wo eine solche Absenkung schon mal ausprobiert wurde. Vor allem aber - und da fangen wir heute auch an - wollen wir uns diese ganzen Corona-Rettungspläne, also die politischen Reaktionen auf die wirtschaftlichen Folgen dieser Pandemie, einmal aus dem Blickwinkel der Generationengerechtigkeit anschauen. Oder anders gefragt: Wem hilft der Staat hier eigentlich gerade am meisten - den Jungen oder den Alten? Und ist das gerecht?

Wir wissen natürlich, dass Rettungspläne in Krisen notwendigerweise Zielkonflikte erzeugen. Spätestens wenn es dann darum geht, endliche Ressourcen an unterschiedliche Bedürftige zu verteilen. Aber eine Sache, die einem bei dieser Pandemie schon aufstößt, ist der Grad, zu dem Gelder in Unternehmen, aber nicht im gleichen Maß in Schulen gepumpt werden. Also ja, das Konjunkturpaket enthält durchaus auch Förderungen für Kitas und Schulen. Allerdings sind die Summen, die durch Unternehmen abgerufen werden können, schon noch mal deutlich höher als die, die den Schulen zur Verfügung stehen. Ist das gerecht?

Marcel Fratzscher:
Für mich ist die kurze Antwort, dass dieses Programm eigentlich nicht generationengerecht ist. Es ist ein Konjunkturprogramm, das kurzfristig stabilisieren soll, aber langfristig eigentlich nicht hilft, die Transformationen im Bereich Klimaschutz, im Bereich Digitalisierung, im Bereich soziale Integration und viele andere Dinge - also das, was künftigen Generationen wichtig ist - das zu berücksichtigen. Das muss man, glaube ich, sehr deutlich sagen.

Die Strategie, ich glaube auch bewusst, der Politik ist es: Jetzt erst einmal stabilisieren, möglichst viele Unternehmen retten, möglichst viele Arbeitsplätze retten, möglichst viel von dem zementieren, was wir haben. Bloß jetzt keine Experimente, bloß jetzt nichts riskieren. Das ist die Logik. Und ich halte es für verständlich, dass man sagt: Natürlich müssen wir jetzt erstmal Arbeitsplätze schützen. Und wir müssen damit auch verhindern, dass Unternehmen pleitegehen. Denn wenn ein Unternehmen pleitegeht, dann werden die Menschen entlassen und wenn Menschen entlassen werden, dann haben sie kein Einkommen. Dann setzt so eine richtige Teufelsspirale ein.

Aber das hat eigentlich nichts mit Generationengerechtigkeit zu tun und ich glaube, das ist der blinde Fleck der Wirtschaftspolitik in dieser Krise: Dass man sehr kurzfristig denkt und dass man diese langfristige Perspektive vergessen hat.

Eric Graydon:
Also "blinder Fleck" ist ja schon relativ hart. Der Witz ist natürlich: Wenn die Leute ihre Jobs verlieren, ist es auch für ihre Kinder ein großes Problem. Gleichzeitig sehen wir natürlich, dass die Kinder in dieser Krise sehr viel abbekommen haben. Kitas und Schulen waren lange geschlossen, sind das teilweise auch immer noch. Das führt natürlich, sowohl beim Lernen, als auch was soziale Kontakte angeht, notwendigerweise zu Entzugserscheinungen. Also E-Learning, Home Learning und so weiter ist natürlich schön und gut, aber Präsenzunterricht ersetzt das nicht. Sie sagen jetzt, die Langfristigkeit sei ein blinder Fleck dieses Konjunkturpakets. Was wäre eine Art, ein solches Konjunkturpaket aufzuziehen, Ihrer Meinung nach, was eben diesen blinden Fleck vermeiden würde?

Marcel Fratzscher:
Ich gebe Ihnen völlig Recht, Herr Graydon, dass natürlich jetzt Arbeitsplätze sichern und Jobs und Unternehmen sichern auch nicht nicht im Interesse der jungen Generation ist. Natürlich wollen die, dass die Wirtschaft wieder anläuft und dass der Wohlstand gewahrt werden kann. Natürlich ist das eine notwendige Voraussetzung. Aber es reicht halt eben nicht. Denn wenn Sie jetzt einen Job retten für zwei, drei Jahre, dann ist das wichtig für die Person, die diesen Job hat und für die Familie. Aber das heißt ja nicht unbedingt, dass es den gleichen Job dann in 20 oder 30 Jahren gibt oder dass damit andere neue Jobs entstehen können. Wenn man mal sagt: Stabilisierung vs. Transformation. Stabilisierung kann kurzfristig Schlimmeres verhindern, Unternehmen können Arbeitsplätze sichern: Transformation langfristig hin zu Klimaschutz, neue Technologien zum Beispiel E-Mobilität, z.B. klimaschonende Antriebe von Autos, LKWs, Biodiversität sichern, Umweltschutz gewährleisten, aber auch sozialen Ausgleich, dass man eben alle mitnimmt. Dazu gehört dann auch so etwas wie Chancengleichheit im Bildungssystem, Gleichstellung von Mann und Frau und viele andere Themen.

Und meine Sorge ist es: Wenn man jetzt das Falsche tut, dann mag das zwar kurzfristig stabilisieren, aber langfristig mag es diese Transformation schwieriger machen und die Einhaltung der Klimaziele noch schwieriger machen. Und das ist der Zielkonflikt, der entsteht. Und das heißt nicht, dass kurzfristige Stabilisierung falsch ist, sondern für mich heißt es, das was wir gesehen haben, was die Politik gemacht hat in den ersten drei Monaten - Fokus auf Stabilisierung, Schlimmeres verhindern - das ist gut, aber es reicht nicht.

Was eigentlich fehlt, ist ein Zukunftspaket für Investitionen in Klimaschutz, Umweltschutz, in neue Technologien, Digitalisierung. Da ist Deutschland katastrophal schlecht drin in vielerlei Hinsicht, aber auch im sozialen Bereich. Sie haben es eben angesprochenen, Investitionen ins Bildungssystem, dass alle Menschen mitgenommen werden, dass die jungen Menschen, gerade die, die die schwierigsten Startbedingungen haben, Chancen erhalten und eben in dieser Corona-Krise nicht hinten runterfallen. Das ist, was wir im Augenblick sehen - dass sie hinten runterfallen, dass die Ungleichheit im Bildungssystem größer wird. Also das sind drei konkrete Bereiche, wo die Politik im Augenblick eigentlich einen blinden Fleck hat und viel zu wenig tut. Und deshalb ist mein Plädoyer, zu sagen: Ja, das Konjunkturprogramm ist gut, das ist richtig, es hilft, zu stabilisieren, aber es reicht nicht. Da muss jetzt ein Zukunftspaket folgen, damit man eben nicht zu Lasten künftiger Generationen jetzt handelt.

Deutschland braucht ein Zukunftspaket

Eric Graydon:
Wenn wir uns jetzt konkret nur dieses Thema Schule angucken: Was, glauben Sie, fehlt da? Warum sind wir noch nicht an dem Punkt, wo der Staat sagt: Wir haben Milliardenpakete für Unternehmen. Warum können wir nicht einfach den Schulen Millionenbeträge geben, wenn wir sowieso schon mit solchen Summen um uns werfen, um denen dann irgendwie zu helfen, damit sie eben ihre Kinder durch diese Krise kriegen? Weil das ist keine Zukunftsmusik, das sind Probleme, die jetzt akut gerade bestehen, also wo wirklich jetzt akut reagiert werden muss.

Marcel Fratzscher:
Es fehlt schon seit langem an Geld im Bildungssystem. Ich glaube, das ist es kein Geheimnis. Das sieht man an der Infrastruktur in den Schulen, die in vielen Städten oder Regionen verfallen und in schlechten Zuständen sind. Aber wichtiger noch: Es fehlt an Fachpersonal. Es fehlt an Kapazitäten, gerade im frühkindlichen Bereich, in den Kindergärten. Es fehlt an Ganztagsschulen. Also es fehlt ganz viel an Kapazitäten.

Ich glaub, da besteht ein sehr großer Konsens, auch unter uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, dass das ein Riesenproblem ist und dass das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich nur noch Mittelmaß ist. Es gibt die Pisa-Studien von OECD, die Länder vergleicht - da steht Deutschland irgendwo im Mittelfeld. Da kann man sagen: Das ist ja nicht schlimm. Aber wenn man den höchsten Wohlstand haben möchte - und uns geht es im Augenblick extrem gut im Vergleich zu anderen Ländern-, dann reicht ein mittelmäßiges Schulsystem eben nicht. Und das heißt langfristig: Wenn es uns nicht gelingt, das Bildungssystem zu verbessern, wird Deutschland wirtschaftlich zurückfallen. Und da werden andere Länder erfolgreicher sein, werden deutsche Unternehmen verdrängen und damit auch deutsche Arbeitsplätze.

Aber jetzt kurzfristig können Sie natürlich nicht alles mit Geld lösen. Wenn sie sagen: Jetzt habt ihr hier noch mal 10 Milliarden Euro für die Kitas und Schulen, damit ihr neues Fachpersonal einstellt, damit dann auch das Unterrichten in kleineren Klassen möglich ist. Das ist hier im Augenblick die Realität für viele, die sagen: Wir können gar nicht aus hygienischen Gründen die volle Klasse haben. Deshalb müssen wir eine Rotation machen, die eine Hälfte nachmittags, die andere vormittags oder die eine Woche und die anderen die andere Woche. Das können sie nicht innerhalb von drei Monaten oder selbst zwei oder drei Jahren lösen. Dafür brauchen sie erst mal die Kapazitäten.

Und das ist die Schwierigkeit in einer solchen Krise. Wir sehen: Das Bildungssystem hat riesige Probleme. Die Kinder aus einkommensschwächeren, bildungsferneren Familien leiden viel stärker unter diesem Lockdown, dass sie eben nicht zur Schule, nicht in die Kitas gehen können. Also die Chancengleichheit nimmt ab, die Ungleichheit nimmt zu. Und das können Sie mit einem Konjunkturpaket nicht lösen. Und wenn Sie den Schulen sagen: Ich habe da mehr Geld, dann sage ich: Ja, wo soll ich denn die Lehrerin oder den Lehrer herbekommen? Die gibt es gar nicht. Das dauert lange Zeit, das aufzubauen. Das ist so ein bisschen das Problem in dieser Krise. Es gibt Maßnahmen, die sind per Gießkannenprinzip: Mehrwertsteuersenkung. Das funktioniert extrem schnell. Das können sie von einer Woche auf die nächste umsetzen. Aber andere Maßnahmen, zum Beispiel so strukturelle Probleme im Bildungssystem, können Sie nicht innerhalb weniger Wochen oder Jahre umsetzen. Hier liegt viel zu lange vieles im Argen in Deutschland und deshalb wird es das nicht lösen. Um vielleicht noch mal einen Begriff reinzubringen: Resilienz, also Widerstandsfähigkeit. Das wird immer häufig genannt in der Krise. Wie kann ein Land, eine Gesellschaft, verschiedene Systeme innerhalb der Gesellschaft eine solche Krise meistern? Und wir sehen im Bildungssystem ist die Resilienz relativ gering, da gibt es kaum Ausweichmöglichkeiten. Es hat schon vorher an Kapazitäten gefehlt und das rächt sich dann in einer solchen Krise.

Eric Graydon:
Sie sagen, das lässt sich nicht heute Nachmittag, in den nächsten Monaten, vielleicht sogar in den nächsten Jahren klären. Gleichzeitig wissen wir aber natürlich, und auch das ist ja eine traurige Bilanz vieler vergangener Krisen, dass Probleme, die in einer solchen Krise entstehen, gerade in Sachen Bildung sehr lange Rattenschwänze haben. Das sind nicht Probleme, die sich mit einer Konjunkturbelebung wieder erledigt haben, sondern da sind Löcher in Lehrbiografien, die sich über Jahrzehnte auswirken können.

Wir wissen auch natürlich die Probleme, die jetzt gerade in den Schulen entstehen, dieses Umgehen mit Hygienemaßnahmen, kleinere Klassen, all dieses Zeug, das wird uns noch eine ganze Weile begleiten, nämlich mindestens so lange, bis wir eben eine Möglichkeit haben, mit dieser Krise wirklich umzugehen, sei es durch einen Impfstoff, sei es durch andere Möglichkeiten, was auch immer. Das wird also eine Weile bei uns bleiben. Das heißt, wäre jetzt nicht der Punkt, zu sagen: Wir müssen jetzt eben dieses Geld in die Hand nehmen, gerade wiederum Thema Schulen: Wir müssen denen wenigstens eine sichere Perspektive geben. Dass also auch, sollte nach der Krise eventuell wieder gespart werden müssen, weil wir jetzt zu viel ausgegeben haben, die Budgets der Schule wenigstens sicher sind? Müsste man nicht gerade diese Art von Überlegungen machen, um eben auch diesen Leuten Planungssicherheit zu geben? Weil wie Sie ja sagen: Diese ganzen Sachen brauchen Vorlauf, Fachpersonal und sowas. Das dauert alles Jahre, bis man das hat. Aber den Leuten jetzt die Sicherheit zu geben, zu sagen: Okay, liebe Lehrer*innen, so könnt ihr die nächsten zehn Jahre weitermachen. Wir stehen hinter euch und zwar mit diesem Batzen Geld?

 

Marcel Fratzscher:
Genau das ist der Punkt: Planungssicherheit. Und um Planungssicherheit zu haben, brauchen Sie letztlich eine Perspektive. Und genau da sind wir beim Thema "kurzfristige Stabilisierung vs. langfristige Transformation". Und genau diese Perspektive fehlt. Den Schulen können sie ja nicht sagen: Hier habt ihr mehr Geld für die nächsten zwei Jahre. Sondern da muss man sagen: Hier habt ihr 20 oder 30 Jahre oder permanent mehr Geld. Ihr habt zusätzliche Gelder, um Lehrerinnen und Lehrer einzustellen. Ihr habt zusätzliche Kapazitäten, dann müssen auch Räumlichkeiten da sein. Dann muss auch die Möglichkeit da sein. Und da gebe ich Ihnen absolut recht: Das sollte man jetzt in der Krise angehen.

Wir haben in vielen der vergangenen Folgen auch immer wieder über Vertrauen gesprochen und gesagt: Wieso halten die Menschen sich denn so zurück und konsumieren nicht? Die haben doch jetzt in der Krise ihr Geld nicht ausgeben können? Wieso laufen die jetzt nicht raus in die Geschäfte und geben das Geld aus? Und lassen es sich gut gehen? Ja, natürlich: Weil Menschen Angst haben, weil sie Sorgen haben, weil viele gar nicht wissen, ob sie morgen einen Job haben oder wie es im nächsten Jahr aussieht. Wir haben schon jetzt 10 Millionen Menschen in Kurzarbeit, über eine halbe Million zusätzliche Arbeitslose. Und in einer solchen Krise ist es wichtig, Vertrauen zu schaffen. Vertrauen schaffen Sie, indem Sie den Menschen sagen: Hier, wir helfen euch ganz konkret. Jetzt kriegt ihr das Geld in die Hand. Hier habt ihr es. Und zweitens, indem man den Menschen eine Perspektive gibt und sagt: Ja, diese Hilfe gilt nicht nur für ein oder zwei Jahre, sondern wir geben euch eine Perspektive. Wir tun etwas, dass Deutschland in zehn 15 Jahren hervorragend dastehen kann. Und das schafft Vertrauen. Das schafft eine Perspektive. Und deshalb ist es so wichtig in einer solchen Krise, dass man eben nicht nur kurzfristig stabilisiert mit sehr viel Geld und sagt: Hier habt ihr es, damit Schlimmeres verhindert wird, sondern indem man den Menschen auch eine Zukunft anbietet.

Und da sind wir wieder bei der jungen Generation und bei den künftigen Generationen, was natürlich vor allem für die relevant ist. Die brauchen eine Perspektive. Und die sehen im Augenblick, dass ihre Perspektiven immer düsterer werden. Ich war am Montag mit der Generationen Stiftung in der Bundespressekonferenz, wo die Generationen Stiftung genau diese Forderung hervorgebracht hat. Sie hat gesagt: Wir sind die vergessenen dieser Wirtschaftspakete - auch des Konjunkturpakets, das am Montag im Bundestag beschlossen wurde. Wir wollen das nicht. Wir wollen ein Zukunftspaket und ich stimme der jungen Generation oder den jungen Menschen, da waren zwei 19- und 20-Jährige dabei, Hannah Lübbert und Elia Mula, voll und ganz zu. Die junge Generation fällt hinten runter und ein Zukunftspaket, Zukunftsinvestition, eine klare Perspektive, muss einfach dazugehören, damit man erfolgreich aus dieser Krise herauskommen kann.

Der Trumpf der Mehrwertsteuersenkung: Schnelligkeit

Eric Graydon:
Es gibt in puncto Generationengerechtigkeit noch ein anderes klassisches Argument, das jedes Mal kommt, wenn der Staat die Geldhähne aufmacht. Es ist nämlich das Argument: Das müssen die zukünftigen Generationen dann zahlen. Nun haben wir es hier mit einem Konjunkturpaket historischen Ausmaßes zu tun. Auch dieses Konjunkturpaket historischen Ausmaßes werden zukünftige Generationen bezahlen müssen. Wie passt das zusammen mit dem Gedanken der Generationengerechtigkeit?

Marcel Fratzscher:
Schulden sind ja per se mal nicht schlecht. Das muss man sich einfach mal bewusst machen. Und die Frage ist: Was steht den Schulden gegenüber an Vermögen, an Investitionen, an Möglichkeiten? Und wenn jetzt Schulden gemacht werden, um Arbeitsplätze zu sichern, um eine Transformation hin zu Klimaschutz, zu erneuerbaren Energien, neuen Technologien, die gute Jobs für die Zukunft schaffen, dann sind das hervorragend gemachte Schulden. Und jeder Vater, jede Mutter würde sagen: Ja klar, wenn ich jetzt hier Schulden aufnehmen muss, damit mein Kind eine Chance bekommt, eine bessere Bildung bekommt, was Neues lernt, was sieht in der Welt - würde doch jede Mutter jeder Vater sagen: Ja, das ist hervorragend ausgegebenes Geld, und wenn es sein müsste, würde ich das machen.

Und das ist, glaube ich, so diese Perspektive, die wir haben müssen. Wir dürfen nicht nur auf Schulden schauen und dann einen Anfall bekommen, wenn die steigen, sondern man muss auf die andere Seite schauen. Was steht dem gegenüber? Und ich glaube, da wird Ihnen jeder 20-Jährige heute sagen: Mir ist es wichtiger, dass ich in einer intakten Umwelt, in der Zukunft leben kann, dass ich eine gute Arbeit habe, ein gutes Auskommen habe, was Erfüllendes habe.

Und vielleicht noch ein zweiter Punkt zu unserer deutschen Obsession mit Schulden: Was wichtig ist, ist gar nicht so sehr, wie hoch die Schulden sind für den Staat, sondern was der Staat jedes Jahr zahlen muss, um diese Schulden zu bedienen. Und diese Zinsen sind in den letzten 15 Jahren komplett eingebrochen. Also 2007 hat die Bundesregierung knapp 45 Milliarden Euro an Zinsen jedes Jahr zahlen müssen. Im letzten Jahr hat der Bund 12 Milliarden Euro an Zinszahlungen gehabt, um die Schulden zu bedienen. Wieso? Natürlich, weil die Zinsen im Augenblick bei null liegen, also der deutsche Staat kann sich heute für 30 Jahre eine Anleihe, also einen Kredit aufnehmen und zahlt dafür Null Prozent Zinsen. Natürlich gehen die Zinszahlungen der Bundesregierung auch der Länder und Kommunen immer weiter zurück. Das heißt im Augenblick sind Schulden gar nicht das Problem, weil sie können komplett zinslos bedient werden. Der Schlüssel ist: Natürlich steigen irgendwann die Zinsen und dann muss der Staat wieder neue Schulden aufnehmen und dann wird es richtig teuer. Nur ob die Zinsen wieder steigen und ob es richtig teuer wird, hängt letztlich davon ab, wie sich die Wirtschaft entwickelt und wenn das Wirtschaftswachstum zurückkommt, weil der Staat heute kluge Schulden macht, viel Geld für Bildung ausgibt, für neue Technologien, für Klimaschutz, für Digitalisierung, wenn mehr wirtschaftliche Dynamik entsteht, neue Jobs entstehen, bessere Einkommen, dann zahlen die Leute und Unternehmen auch mehr Steuern. Und dann kann der Staat diese Schulden auch sehr viel schneller abbauen.

Und das ist genau die Erfahrung der letzten zwölf Jahre. Deutschland ging aus der globalen Finanzkrise mit 85 Prozent Staatsschulden relativ zu einer jährlichen Wirtschaftsleistung raus. Wir hatten Ende letzten Jahres unter 60 Prozent Staatsverschuldung relativ zur Wirtschaftsleistung aus zwei Gründen: Einmal, weil der Staat ein so riesiges Wachstum hatte, dass die Schulden einfach relativ zur Wirtschaftsleistung sinken. Aber auch, weil er so hohe Steuereinnahmen hatte und über sechs Jahre hinweg eine schwarze Null geschrieben hat, also Überschüsse gemacht hat, um Schulden zurückzuzahlen.

Eric Graydon:
Und es gehört natürlich auch zu den Merkwürdigkeiten dieses Systems, also der internationalen Staatenfinanzierung dazu, dass die Staaten mit besonders gutem Wirtschaftswachstum die geringsten Zinsen zahlen müssen, weil die natürlich das geringste Ausfallrisiko als Kreditnehmer haben und dadurch dann natürlich auch für Kreditgeber die attraktivsten sind.

Marcel Fratzscher:
Absolut.

Eric Graydon:
Dann lassen Sie uns mal einen Punkt angucken, der den Staat auch eine ganze Menge Geld kosten wird: Die gerade heute in Kraft getretene Absenkung der Mehrwertsteuer. Diese Maßnahme kostet den Fiskus eine Menge Geld – viele Milliarden Euro. Was dabei herauskommt, ist allerdings noch nicht so richtig klar. Es gibt unterschiedliche Spekulationen: Die einen sagen, es wird verpuffen, die anderen sagen, es ist durchaus relevant. Wir haben bereits darüber gesprochen.

Es gibt nun eine Studie aus Großbritannien. Diese Studie bezieht sich auf ein sehr ähnliches Experiment, was die Briten 2008 auf 2009 gemacht haben, also mitten in der Finanzkrise. Damals hatte das britische Finanzministerium die value-added tax, also quasi deren Mehrwertsteuer, für einen Zeitraum von 13 Monaten abgesenkt - damals um 2,5 Prozent. Jetzt gibt es eben diese Studie, die sich angeguckt hat, welche Ergebnisse, welche Folgen das hatte und die Folgen sind nun, man kann es eigentlich nicht anders sagen, relativ überschaubar - also summa summarum über die 13 Monate führte diese Mehrwertsteuerabsenkung zu einem Anstieg der Einzelhandelsumsätze um ein Prozent.

Andere Effekte, die man dann sah, waren zum Beispiel, dass die Verbraucher auf Preisnachlässe reagiert haben am Anfang. Sie haben durchaus mehr gekauft. Nach der Wiederanhebung der Mehrwertsteuer dann im Januar 2010 gingen die Einzelhandelsumsätze aber wieder zurück und vor allem nämlich der Punkt, der ja nun auch hier gerade viel diskutiert wird, die Frage, inwieweit die Händler die Ersparnisse durch diese Mehrwertsteuerabsenkung dann auch wirklich an die Kunden weitergeben: Auch dazu gibt es aus der britischen Studie einige unangenehme Erkenntnisse, nämlich zum Beispiel, dass eben die Händler in den ersten zwei Monaten nach Absenkung der Mehrwertsteuer durchaus ihre Preise eben entsprechend gesenkt haben, dass sie danach dann aber wieder anfingen zu steigen.

Vor diesem Hintergrund und vor allem eben bei dieser Zahl, wir sehen, das waren 13 Monate, also deutlich länger als hier. Wir reden in Deutschland ja nur von sechs Monaten, in dieser ganzen Zeit hat es zu einem Anstieg der Einzelhandelsumsätze um ein Prozent geführt. Vor diesem Hintergrund: Halten Sie eine Mehrwertsteuersenkung in Deutschland für eine sinnvolle Investition?

Marcel Fratzscher:
Ja, ich halte die Mehrwertsteuersenkung für sinnvoll, weil sie sehr schnell funktioniert. Vor zwei, drei Wochen hat man es entschieden, ab heute, 1. Juli, ist es effektiv, das Geld fließt. Der zweite Vorteil ist: Es hilft allen. Also jeder, der einkaufen geht, jeder, der Geld ausgibt, profitiert davon. Und das ist eine der großen Stärken, dass es eben sehr schnell, sehr unbürokratisch allen hilft.

Jetzt kann man darüber streiten: Was hilft es? Wieviel hilft es? Wem hilft es genau? Trifft man die Richtigen? Da kommt man wieder in diese Problematik Schnelligkeit vs. Zielgenauigkeit. Natürlich wollen sie in einer Krise den Menschen helfen, die besonders hart betroffen sind. Aber es ist nicht wirklich sinnvoll, wenn die Hilfe dann irgendwie ein oder zwei Jahre später kommt, sondern die Leute brauchen jetzt Geld. Und deshalb ist der Kinderbonus, die 300 Euro, der jetzt im Konjunkturpaket beschlossen wurden, aber genauso auch die Mehrwertsteuersenkung so gut, weil sie eben sofort wirkt, sofort da ist, dass die Menschen das sofort nutzen können.

Jetzt kann man verschiedene Klagen aufbringen: Jemand mit einem hohen Einkommen, profitiert doch viel mehr davon, weil der gibt mehr Geld in Euro aus. Jemand, der sich ein Auto kauft für 30.000 Euro, der spart 1000 Euro. Aber wer kann sich im Augenblick schon ein Auto kaufen? Das ist mit Sicherheit nicht die Arbeiterin und Arbeiter, die jetzt gerade in Kurzarbeit für den Mindestlohn arbeiten. Das ist klar. Aber was auch richtig ist, ist, dass natürlich jeder profitiert, relativ zum eigenen Einkommen. Menschen mit geringem Einkommen mehr, weil jemand mit 2000 Euro brutto im Monat wird mit hoher Sicherheit fast jeden einzelnen Cent davon ausgeben müssen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Und diese Person spart dann halt. Wir haben das berechnet am DIW Berlin: Wenn man mal eine durchschnittliche vierköpfige Familie nimmt mit mittleren Einkommen, dann würden die ungefähr 70 bis 80 Euro im Monat sparen, wenn die Mehrwertsteuersenkung von allen Geschäften an die Menschen, an die Konsumentinnen und Konsumenten weitergegeben würden. 70, 80 Euro im Monat - das ist sicherlich nicht der große Wurf. Davon können sie jetzt nicht einen schönen Urlaub machen oder eine andere große Anschaffung machen. Aber das ist immerhin ein bisschen was.

Jetzt kann man sagen: Ja, aber die Unternehmen werden nicht die gesamte Mehrwertsteuersenkung an die Kunden weitergeben. Das ist eine der großen Sorgen. Da ist meine Antwort zweierlei. Einmal: Ist es so schlimm, wenn die Bäckerei um die Ecke oder das Café oder wer auch immer einen Teil der Mehrwertsteuersenkung für sich einbehält, weil es ihnen auch schlecht geht und sie sagen: Ich brauche es auch? Das finde ich nicht so schlimm. Und es hilft auch dem ein oder anderen Unternehmen und vor allem Solo-Selbstständigen oder kleinen Geschäften, zu überleben. Klar, das allein wird nicht reichen, aber es ist zumindest eine Hilfe. Der zweite Punkt für mich ist auch wichtig. Und das ist: Wir sind hier in einer solchen Situation, in der die Menschen weniger weggehen, weniger einkaufen gehen, weniger konsumieren und da kommt diese Studie für Großbritannien von der globalen Finanzkrise rein. Was in einer solchen Situation passiert ist, dass die Unternehmen die Geschäfte die Preise senken müssen, ob das jetzt eine Mehrwertsteuersenkung gibt oder nicht. Denn wenn ihnen die Nachfrage wegbricht und sie halten fest an ihren Preisen, dann kommen die Kunden einfach nicht. Viele von uns sehen es auch im tagtäglichen Leben – manche Supermärkte werben, dass sie jetzt schon vor dem 1. Juli, bevor die Mehrwertsteuersenkung überhaupt effektiv wird, schon ihre Preise gesenkt haben. Die werben um Kunden, weil sie natürlich realisieren: Die Menschen haben weniger Geld in der Tasche, konsumieren weniger. Was ich sagen will: In einer solchen Krise, wenn die Nachfrage schwach ist, dann fallen die Preise und die Mehrwertsteuersenkung hilft den Unternehmen, noch mal zu sagen: Okay, ich senke jetzt wirklich die Preise, weil ich muss auch weniger Mehrwertsteuer dann nachher an den Staat abführen. Deshalb mache ich das. Ich glaube, auch aus dem Grund ist die Mehrwertsteuersenkung hilfreich, weil sie diese Preissenkungen nochmal unterstützt. Klar ist auch: Nicht alles der Mehrwertsteuersenkung wird letztlich im Portemonnaie von uns Konsument*innen landen.

"Die Superlösung gibt es nicht"

Eric Graydon:
Aber die Frage, die mich dabei umtreibt, ist die Verhältnismäßigkeit. Es hilft, auch 70 Euro im Monat sind nicht trivial. Gerade für Menschen mit geringerem Einkommen ist das durchaus ein ernstzunehmender Posten. Trotzdem muss man sich natürlich fragen: Wenn summa summarum dann ein Plus bei den Einzelhandelsumsätzen von gerade mal einem Prozent rauskommt - in dem britischen Beispiel - und die Kosten für den Staat wenn ich das jetzt noch richtig im Kopf habe, bei so knapp unter 20 Milliarden Euro liegen, könnte man diese 20 Milliarden nicht anders einsetzen? Also wäre es dann nicht vielleicht sinnvoller, wirklich über so etwas nachzudenken wie etwa Konsumgutscheine? Oder ich bin nun auch noch US-Bürger. Das heißt, ich habe von meinem Präsidenten 1200 Dollar bekommen. Da kann man darüber diskutieren, wie sinnvoll das ist - darüber gefreut habe ich mich gesamtwirtschaftlich betrachtet. Aber es gibt ja noch andere Möglichkeiten, wie man solche Summen einsetzen kann. Ist dann wirklich ein Mittel wie diese Mehrwertsteuersenkung da wirklich das Sinnvollste? Gerade weil zum Beispiel wie gesagt, Konsumgutscheine oder Ähnliches kann man auch dann vielleicht eher an die Leute geben, die es wirklich brauchen. Eben also an diese Geringverdiener, die jetzt also nicht losziehen und sich das neue Auto kaufen wollen.

Marcel Fratzscher:
Konsumgutscheine sind nicht so leicht. Das ist ja wahnsinnig komplex. Da müssen Sie einen Gutschein schaffen und dann sagen: Sie als Person, als Eric Graydon, wenn Sie jetzt dafür qualifiziert werden und ihn bekommen würden - nur Sie dürfen dieses Geld in welchen Geschäften, wo man sich überlegen muss, ob in allen Geschäften oder nur in wenigen oder nur bestimmten oder nur für Nahrungsmittel oder Grundbedürfnisse ausgeben. Was ist, wenn Sie damit in ein Spielcasino gehen und sagen: Ich verzocke das Geld. Ist das dann auch okay? Dann kommt man in so eine Diskussion, die dann ganz schwierig ist. Will man den Menschen wirklich vorschreiben, was sie mit dem Geld zu machen haben oder nicht? Vielleicht sagt der eine oder andere auch: Wissen Sie was? Ich bin ganz froh, dass ich diese 70, 80 Euro im Monat mehr habe. Ich habe so wenig, ich muss jetzt mein Geld zusammenhalten. Ich spare das lieber, ich gebe lieber weniger aus. Klar, gesamtwirtschaftlich will man das nicht. Man will, dass die Menschen konsumieren, damit die Wirtschaft wieder in Fahrt kommt, aber man muss halt sehr vorsichtig sein, dass es da nicht sehr schnell paternalistisch wird, wenn man sagt: Nur Sie bekommen das. Und nur Sie dürfen das für diese und jene Dinge ausgeben. Und wie gesagt, für mich ist das ein Argument.

Das zweite Argument ist einfach die Schnelligkeit. Ich bezweifle, dass man Konsumgutscheine in diesem Jahr hätte noch verteilen können. Dann wären wir wahrscheinlich schon im nächsten Jahr gewesen. Und es geht darum, dass man jetzt sofort bei den Menschen mehr Geld in der Tasche hat. So wie den Kinderbonus - Das kann man relativ schnell abrechnen, das kann sofort passieren, die Mehrwertsteuersenkung auch. Aber wenn Sie dann andere Instrumente haben, dauert es Zeit und ich bin nicht prinzipiell gegen Konsumgutscheine. Ich will nur sagen: Es gibt keine wirkliche Superlösung, wo man sagt, das kommt genau dort an, wo man es haben will. Die Leute geben mehr Geld aus und das funktioniert alles einwandfrei. Solch eine Patentlösung gibt es leider nicht.