- Ersatzfamilie Wohngemeinschaft

Familie ist das Thema des diesjährigen Inforadio-Adventskalenders. Familie - das sind Vater, Mutter, Kind. So die gängige Vorstellung, die aber mehr und mehr Menschen nicht mehr leben. Heute gibt es unendliche andere Formen des Zusammengehörigkeits-Gefühls. Judith Kochendörfers Wahl-Familie ist ihre Wohngemeinschaft.

Frühstückszeit am Kottbusser Damm. Der Rhythmus der drei Leute, alle 37, hat sich seit Langem eingepegelt. Die erste Stunde habe ich den Küchentisch für mich allein. Ich genieße die Ruhe vor dem Aufwachen der WG. Frühstück mit Kerzen, Kaffee und Räucherstäbchen.

Dann wird es lebendig. Zuerst schlurft der Finne aus seinem Zimmer und kocht sich Porridge auf. Polternd stößt dann der Afghan-Deutsche dazu, stellt die Espressomaschine aufs Gas und verschwindet im Bad. Wir werden etwa eine Stunde über die politische Lage der Welt sprechen und Toilettenwitze machen. Dann werde ich die erste sein, die zur Arbeit verschwindet.

Fast zehn Jahre wohne ich jetzt schon mit einem der beiden zusammen. Seit ich 18 bin wohne ich in WGs, davor war ich im Internat. Eigentlich hatte ich genug vom WG-Leben, Aber das Leben passiert eben, während wir andere Pläne machen.

Gefunden haben wir uns über Internet und  halbstündige Castings. Je älter man wird, desto intuitiver spürt man, welche Menschen einem gut tun. Man wird nicht verschlossener mit dem Alter, man öffnet sich nur nicht mehr jedem. Meine Männer sind Dokumentar- und Spielfilmregisseure, unsere Freundeskreise sind leicht verschieden, das hält mich wach.

Natürlich kenne ich die Standardsätze: "Wie, du wohnst noch in einer WG? Ist das nicht nur was für Studenten?" und "Ich könnte das ja nicht auf Dauer, mit fremden Leuten wohnen."  Aber diese Leute sind nicht fremd. Das sind meine Freunde. Wir sind Wahlverwandte, wir sind "Sister from another mister" und "Brother from another mother".

Das Konzept der WG ist von der Not zur Tugend gewachsen, und vom Miete-Sparen zu einer neuen, ebenso beglückenden wie herausfordernden Form des Zusammenlebens.

Ich mag diese selbstständig gewachsenen Morgenrituale - das gemeinsame Schweigen, wenn man schweigen möchte, reden, wenn man reden möchte, die Türen, die offen oder geschlossen sein dürfen. Ich mag, dass wir uns auf reife Weise streiten können, und dass wir den anderen nicht für alles brauchen, sondern nur dafür, was er auch zu geben bereit ist.  Ja, ich kann mir vorstellen, auch als alte Frau in einer WG zu wohnen. Natürlich weiß man nie, wo das Leben einen hinträgt. Aber schon die Vorstellung finde ich beruhigend.

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Weihnachtsparty um 1928
imago stock&people

Familienbande - Der Inforadio Adventskalender

In diesem Jahr hat sich im Adventskalender von rbb Inforadio alles um die Themen Familienbande, Familienkonstellationen und -traditionen gedreht. Bis Heiligabend hat sich jeden Tag ein neues Türchen für Sie geöffnet. Hier können Sie alle Beiträge noch einmal nachhören.