#dasbrauchtdeutschland - Schulz - rackern gegen den Rückstand

Die Chancen sind gering - und doch will SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nichts unversucht lassen, um sich und seiner Partei die Gunst der Wählerinnen und Wähler zu sichern. Ein Kampf gegen Windmühlen, glaubt man den aktuellen Umfragen. Aber Schulz kämpft weiter. Auch wenn ihn viele schon abgeschrieben haben. Von Angela Ulrich

Es passiert mitten in seiner Rede auf dem historischen Marktplatz von Peine in Niedersachsen. Katzenkopfpflaster, ein paar Fachwerkhäuser, der Eispavillon. Rund 800 Leute sind da, Martin Schulz spricht über Schulen und Rente, über die Türkei, wettert über die Kanzlerin. Und dann, um Punkt sechs Uhr, schallt es vom Rathausturm:

Ein Glockenspiel, drei Lieder in Folge, 'Jetzt kommen die lustigen Tage' ist eins davon. Martin Schulz findet das nur halb lustig, er stockt: "Das hättste mir doch vorher sagen können, also echt!" Dann wartet der Kandidat. Geschlagene drei Minuten lang. Schulz steht aufrecht am Rednerpult, schweigend, halb genervt, halb belustigt - und macht dann nahtlos weiter:

Schulz kann auch Ironie

"Sie haben einerseits eine Kanzlerin, die jede Debatte um die Zukunft verweigert. Oder jemanden, der Klartext redet. Manchmal auch die Geduld aufbringt, drei Minuten lang zu warten!" Die Stimmung hätte im Eimer sein können. Die Spannung weg. Aber Schulz fängt das auf. Das ist sein Vorteil – dass er rüberkommt wie der nette Kerl von nebenan:

"Großartig", sagt eine Frau im Publikum. "Ein Mann, mit so einer klaren Meinung und einer klaren Aussage." Eine andere findet an ihm gut: "Die Menschlichkeit. Seine Natürlichkeit. Und dass er spontan reagiert hat. Und auch seine Schwächen zugegeben hat, das fand ich sehr gut. Und die Nähe, das war schon ganz toll!" Eine Dritte ergänzt: "Vor allem die Wärme, die so 'rüberkommt."

Eine Kleinstadt-Band hat vor Schulz‘ Rede für Stimmung gesorgt. Viele auf dem Platz sind neugierig, aber auch resigniert: "Mir fehlt noch der letzte Kampfeswille", sagt ein Mann. "Ein bisschen mehr Durchsetzungsfähigkeit und mehr Kraft in den Worten." Eine Frau meint: "Jetzt ist er manchmal ein bisschen zurückgefahren, um niemanden zu verletzen oder wie auch immer. Fehlt noch ein bisschen mehr Biss."

Auf der Bühne rackert Schulz. Teilt aus, auch mal ironisch: "Hat kein Abitur, hat 'ne Glatze, trägt Anzüge von der Stange, was für ein komisches Brillengestell, noch nie ist einer mit Bart Kanzler geworden, weiß der Teufel, was für tiefschürfende Analysen über die Zukunft des Landes ich da lesen muss!"

Aber Schulz kann auch ernst. Gerechte Löhne, Breitband-Ausbau, keine Aufrüstung in Deutschland. Martin Schulz donnert über den kleinen Marktplatz von Peine, die Leute hören ihm zu. Pfiffe gibt es keine. Selbst bei Auftritten im Osten sind die Buh-Rufe sparsam. Der SPD-Mann regt keinen auf. Das ist auch sein Problem – er ist nicht so wichtig für viele, man will sich nicht an ihm reiben.

Vor einigen Wochen hat er doch Ärger bekommen, als er ins Hamburger Schanzenviertel gefahren ist nach den G20-Krawallen.Dann scheut Schulz den Konflikt zwar nicht. Er ist kein Drückeberger. Aber ihm ist doch Harmonie lieber.

Selfies mit dem Kandidaten

Auf dem Marktplatz von Peine macht Schulz nach seinem Auftritt bereitwillig noch ein paar Selfies mit Fans. Als er der Lokalpresse ein paar Fragen beantwortet, drängt sich eine Frau heran, Annette Brehmkamp, Altenpflegerin aus Hannover. Sie will unbedingt noch etwas loswerden. Sie sei unentschieden, sagt sie, sie habe die Agenda 2010 der SPD geärgert. Was Schulz jetzt tun wolle für soziale Gerechtigkeit? Der Kandidat wollte eigentlich weg, aber er wendet sich Annette Brehmkamp zu. Gibt ihr geduldig Antworten, manchmal etwas umständlich, nimmt sich Zeit. Sie wirkt überzeugt am Ende.

Ein guter Typ, dieser Martin Schulz, sagen viele auf dem Marktplatz. Nur: Kanzler wird er nicht, da kann die SPD einpacken. Aber richtig schlimm finden das nur wenige: "Er ist chancenlos gegen Merkel. Das kann er nicht aufholen." - "Er wäre ein sehr guter Außenminister. Da kennt er viele, spricht viele Sprachen." - "Was soll anderes kommen als 'ne große Koalition."

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