Schriftsteller Ingo Schulze (Bild: rbb/Freiberg)
Bild: Klaus Dieter Freiberg

10 Ideen - Das braucht Deutschland - Idee 8: Schriftsteller Ingo Schulze

Ingo Schulze ist Schriftsteller aus Dresden. Er lebt in Berlin. Seine Bücher sind preisgekrönt und in viele Sprachen übersetzt, zum Beispiel die "Simple Stories" oder "Neues Leben", beides Geschichten über die deutsch-deutsche Wendezeit und die Jahre danach. Zuletzt war Ingo Schulze aber etwas weniger in der Welt der Literatur unterwegs und dafür mehr in der Gesellschaftskritik. Er hat einen Essay über die Folgen der Finanzkrise geschrieben, er ist aus Neugier bei Pegida mitmarschiert und er hat sich unter anderem auch mit dem Krieg in der Ukraine auseinandergesetzt. Ingo Schulze, Autor und politisch denkender Kopf, im Interview für die Reihe "10 Ideen - Das braucht Deutschland."

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Sylvia Tiegs:  Sie haben sich ja die Mühe, oder den Spaß - wie man es nennen will -, gemacht vor zwei Jahren und sind bei Pegida bei einer Demonstration mal mitgegangen. Was haben Sie da mitgenommen? Haben Sie Erkenntnisse überhaupt erstmal gewonnen: Was bewegt die Leute, wie sind die drauf? Oder haben Sie auch Verständnis oder Unverständnis bei sich verspürt, als Sie dann gesehen haben, was sagen die, was denken die wohl?

Ingo Schulze: Als Ganzes kann ich damit nichts anfangen und muss auch sagen, dass es irgendwie so die nützlichen Idioten sind, die etwas in den Vordergrund bringen, damit die eigentlichen Probleme gar nicht erst auf den Tisch kommen. Als wäre es eben tatsächlich das dringendste Problem, dass wir sozusagen nicht weiter helfen können, keine Flüchtlinge mehr aufnehmen können. Das ist ein Problem, darüber muss man reden, natürlich. Aber das ist ja eben nicht das Entscheidende, was bei uns ist. Bisher hat keiner was einbüßen müssen dadurch, dass man geholfen hat. Wenn man mit den Einzelnen spricht, dann kommt natürlich schon ein Gefühl von Abgehängtheit da und auch diese Angst, oftmals sehr diffus, etwas zu erleben, was man in den 90er Jahren erlebt hat, wo man nicht gewollt hat, dass sich etwas ändert, wo aber dann etwas zusammengebrochen ist, was vielen die Lebenszusammenhänge zerrissen hat: Also sei es jetzt, sie müssen wegen der Arbeit viel fahren, Freunde sind weggezogen, also alles hat sich neu sortiert. Und jetzt möchte man eigentlich am Status Quo festhalten und merkt, es ist bedroht und nimmt das, was am offensichtlichsten scheint, was an der Oberfläche ist: Da kommen die Fremden, die sehen anders aus. Statt das als etwas zu begreifen, was einen eigentlich auch selbst betroffen hat. Was innerhalb des eigenen Landes passiert ist, ist eben auch in der ganzen Welt passiert. Und wenn wir subventionierte Lebensmittel nach Afrika exportieren und dort die Märkte kaputt machen und die Bauern, dann muss man sich nicht wundern, dass Menschen aus Afrika kommen.

Sylvia Tiegs:  Welchen Gruppen sehen Sie denn da noch in Deutschland am Zug, außer dem Wutbürger, der sagt: "Das reicht mir, ich habe die Schnauze voll"?

Ingo Schulze: Naja Wutbürger ist ein schwieriger Begriff, weil ich es erstmal richtig finde, auf die Straße zu gehen und den Protest dorthin zu tragen. Ich denke eigentlich, dass wir in den letzten Jahren alle miteinander versagt haben, sowohl die Intellektuellen, die eigentlich diese soziale Polarisierung mehr oder weniger in ihrer Mehrheit hingenommen haben, aber auch Gewerkschaften und Kirchen, wo ich mir sehr viel größeren Widerstand erwartet, erwünscht hätte. Also gerade eben auch von Gewerkschaften, die doch selten über ihren eigenen Tellerrand da gucken. Also ich glaube, die Gewerkschaften müssen auch sehr viel mehr politischer werden.

Ingo Schulze mit Sylvia Tiegs im Studio (Bild: Dieter Freiberg)
Schriftsteller Ingo Schulze im Gespräch mit Sylvia Tiegs (Bild: rbb/Freiberg)Bild: Klaus Dieter Freiberg

Sylvia Tiegs:  Sie plädieren eigentlich für ein anderes Land, für eine andere Wirtschaftsordnung, für einen anderen gesellschaftlichen Sinn?

Ingo Schulze: Letztlich läuft das darauf hinaus, was aber nichts damit zu tun hat, dass man da jetzt irgendwie Barrikaden baut, sondern das sind Dinge, die im Parlament politisch durchgesetzt werden müssen. Da kann man beschließen, dass man anders mit Agrarsubventionen - ich habe mich an diesem Beispiel festgeredet - oder Waffenexporten umgeht. Da kann man beschließen, dass man ein anderes Steuersystem macht, dass man andere Dinge besteuert, andere freistellt, dass man mehr in die Mittagessen der Schule gibt oder in den öffentlichen Nahverkehr und weniger in die Entwicklung von Elektroautos. Das sind Dinge, die müssen parlamentarisch durchgesetzt werden und ich merke einfach nur, wir stoßen ständig an die Grenzen des Bisherigen. Damit werden wir die Aufgaben, die in der Zukunft stehen, nicht bewältigen. Ich habe ganz große Angst, wenn ich jetzt höre: "Die Rüstungsausgaben müssen wir unbedingt erhöhen", "Wir müssen mehr Geld für Sicherheit ausgeben". Aber das hat eben überhaupt nichts mit militärischen Ausgaben zu tun, sondern tatsächlich in Ursachenbekämpfung und natürlich auch im sozialen Frieden im eigenen Land.

Sylvia Tiegs:  Also, was tun? Was müsste in diesem Jahr passieren, damit sich Grundsätzliches ändert?

Ingo Schulze: Es gibt natürlich Vorschläge, das kann man jetzt den einzelnen Parteien zuordnen - und dann muss man halt sehen, wen man wählt. Wenn man es der AfD zutraut, was ich meiner Meinung nach nicht glaube, man soll sich ruhig mal das ökonomische Programm der AfD anschauen. Das halte ich für viel wichtiger als alles andere, was sie fordern, dann hätte ich da meine größten Bedenken. Aber ich würde sagen, politisch ist mir alles lieber als die nächste große Koalition. Wir brauchen auf der politischen Bundesebene wirklich einen Streit von verschiedenen Lösungsvorschlägen - und da gab es aus meiner Sicht jetzt eben doch ein großes Abgleichen von SPD, CDU. Die Grünen haben sich völlig gewandelt, so dass, was früher mal linksliberal hieß, das heute überhaupt nicht mehr ist - sondern eben tatsächlich, man muss es leider so sagen, unter rot-grün ganz elementare soziale Dinge preisgegeben worden sind.

Sylvia Tiegs:  Also würden Sie sich wünschen: Doch mal wieder die großen Debatten führen - über große Veränderungen oder große Ideen, mal sich an große Dinge ran trauen und nicht weiter in diesem eingefahrenen System, mal ein bisschen hier, mal ein bisschen da?

Ingo Schulze: Ja grundsätzlich, einen anderen Lösungsvorschlag, der sich an einem ganz anderen Begriff von Gerechtigkeit orientiert und entschlossen ist, das durchzusetzen.

Sylvia Tiegs:  Sehen Sie uns auf dem Weg dahin?

Ingo Schulze: Nein.

Sylvia Tiegs:  Gibt es noch jemanden, der das befördern kann?

Ingo Schulze: Das kann jeder Einzelne. Da muss man schon sehen, wie sich so ein politischer Wille artikuliert, sei es auf der Straße, sei es durch Wahlen. Und ich habe auch gemerkt, bei den vielen Diskussionen, bei denen ich dabei war - sei es nach Lesungen, wo ich irgendwo hingegangen bin, Veranstaltungen... Weil es gibt ja ein großes Bedürfnis, sich zu beteiligen und einfach auch mal grundsätzlich anders zu denken. Und das ist schon in gewisser Weise eine Hoffnung auch. Ich würde gerne für die Praxis oder für das Handeln optimistisch bleiben, sonst hätte ich einige Bedenken.

Sylvia Tiegs:  Herr Schulz, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Ingo Schulze: Danke für die Einladung.

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3 Kommentare

  1. 3.

    Kleine Ergänzung: die Abwertung hält deshalb so lange vor, weil sie jeder, der zur "kundenfreundlichen" Arbeitsagentur muss, dort diese Abwertung im Kleinen regelmäßig neu durchlebt. Problematisch ist also nicht die einzelne Aussage von Gerhard Schröder, sondern das System der Abwertung.
    Ähnliche Mechanismen erlebt man übrigens auch, wenn man sich als Mittelständler mit Politikern unterhält. Es ist also kein Problem der Abgehängten, sondern der gesamten Gesellschaft.

  2. 2.

    Aus meiner Sicht liegt das Problem nicht so sehr im (fehlenden) Engagement der einzelnen Gruppen, sondern in der mangelden Wertschätzung in unserer Gesellschaft. Wenn ein Bundeskanzler Sozialhilfeempfänger als faule Sofahocker und Fernsehjunkies abwertet, dann macht das etwas mit den so Behandelten. Sie werden nämlich wütend. Von da führt der Weg zur Abwertung und schließlich zum Hass, wie er an vielen Orten gut zu beobachten ist.

  3. 1.

    So eiert man rum, wenn man die teuren Krisen (Energie, EU, Euro, Flüchtlinge, Pflege usw.), unter denen das Land ächzt, lieber wegdrückt. Herr Schulze sinniert lieber darüber, ob man nicht einen anderen Kurs einschlagen sollte und bemerkt nicht, daß der Kahn am absaufen ist. Logisch wäre: Zuerst den Kahn flott machen, Ballast abwerfen, ideologische Fesseln lösen, nationale Manövrierfähigkeit zurückgewinnen. Sozial ist, was Arbeit schafft - Human ist, was den inneren und äußeren Frieden sichert.

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10 Ideen - Das braucht Deutschland

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